Dienstag, 31. Januar 2012

Nicholas Evans – Der Pferdeflüsterer

„Dann haben wir die Stelle gefunden, nach der wir gesucht hatten. Es war eine steile Böschung, die zur Eisenbahnbrücke hinaufführte. Wir waren schon einmal oben gewesen, deshalb kannten wir den Pfad. Judith ritt jedenfalls voran, und weißt du, es war schon seltsam, aber Gully schien irgendwie zu spüren, dass was nicht stimmt. Er wollte nämlich nicht weiter, und Gully ist sonst nicht so.“
Sie hörte ihre eigenen Worte und merkte, dass sie die Zeiten verwechselt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und er lächelte.
„Also ging Gully rauf, und ich habe Judith gefragt, ob alles okay sei, und sie sagte nur, ich solle vorsichtig sein, und dann bin ich hinterher.“
„Musstest du Pilgrim antreiben?“
„Nein, überhaupt nicht. Mit ihm war es ganz anders, als mit Gully. Er freute sich, dass es weiterging.“
Sie blickte zu Boden und schwieg einen Augenblick. Ein Jährling wieherte leise und am anderen Pferchende. Tom legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Alles in Ordnung?“
Sie nickte.
„Und dann ist Gully ausgerutscht.“ Sie sah Tom an und wirkte plötzlich sehr ernst. „Weißt du, später hat man herausgefunden, dass der Pfad nur auf dieser Seite vereist war. Ein paar Zentimeter weiter links, und es wäre nichts passiert. Aber offenbar hat Gully mit einem Huf drauf gestanden, und das hat gereicht.“
Sie blickte zur Seite, und an der Art, wie sich ihre Schultern bewegten, erkannte Tom, welche Kraft es sie kostete, die Ruhe zu bewahren.
„Dann geriet er ins Rutschen. Man konnte sehen, wie er sich anstrengte und versuchte, die Beine in den Boden zu stemmen, aber er fand einfach keinen Halt. Die beiden kamen direkt auf uns zu, und Judith schrie, wir sollten aus dem Weg gehen. Sie klammerte sich an Gullys Hals fest, und ich wollte Pilgrim wenden. Ich weiß, dass ich viel zu heftig gewesen bin, hab richtig an seinen Zügeln gezerrt, verstehst du? Wenn ich doch bloß einen klaren Kopf behalten hätte und sanfter zu ihm gewesen wäre, dann hätte er sich vielleicht umgedreht. Aber ich glaub, ich hab ihm nur noch mehr Angst gemacht, und er ... er hat sich einfach nicht vom Fleck gerührt!“
Sie schwieg einen Augenblick und schluckte.
„Dann sind wir zusammengestoßen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich oben geblieben bin.“ Sie lachte leise. „Es wäre viel geschickter gewesen, wenn ich nicht oben geblieben wäre. Zumindest, wenn ich mich nicht so in den Steigbügeln verfangen hätte wie Judith. Als sie vom Pferd flog, war das, als hätte jemand mit einer Flagge gewinkt, verstehst du, als wäre sie federleicht und wie aus Nichts gemacht. Irgendwie hat sie im Fallen einen Salto geschlagen, jedenfalls hing ihr Bein im Steigbügel fest, und dann sind wir alle zusammen runtergerutscht. Es ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und weißt du was? Das Verrückteste war, als wir runterschlitterten, da hab ich gedacht, Mensch, dieser blaue Himmel und die Sonne und der Schnee auf den Bäumen und all das, eigentlich ist heute ein wunderschöner Tag.“

Mittwoch, 25. Januar 2012

Paulo Coelho – Veronika beschließt zu sterben

Am 11. November 1997 entschied Veronika, jetzt sei es – endlich – an der Zeit, sich das Leben zu nehmen. Sie machte ihr Zimmer sauber, das sie in einem Kloster gemietet hatte, stellte die Heizung ab, putzte die Zähne und legte sich aufs Bett.
Sie nahm die vier Schachteln mit den Schlaftabletten vom Nachttisch. Lieber wollte sie eine Tablette nach der anderen nehmen, anstatt sie zu zerdrücken und in Wasser aufzulösen, da schließlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Absicht und Umsetzung besteht und sie sich die Freiheit bewahren wollte, es sich auf halben Weg noch einmal anders überlegen zu können. Doch mit jeder heruntergeschluckten Tablette wurde sie sich ihrer Sache sicherer: Nach fünf Minuten waren alle Schachteln leer.

Dienstag, 24. Januar 2012

Sara Gruen – Wasser für die Elefanten

Prolog







Es befanden sich nur noch drei Menschen unter der rot-weißen Markise des Hamburgerstands: Grady, ich und der Schnellkoch. Grady und ich saßen an einem abgenutzten Holztisch, jeder mit einem Hamburger auf einem verbeulten Blechtablett vor sich. Der Koch kratzte hinter der Theke mit der Ecke seines Pfannenwenders das Blech sauber. Die Fritteuse hatte er längst ausgestellt, aber der Fettgeruch hing noch in der Luft.
Der Rest der eben noch überfüllten Budengasse war leer bis auf eine Hand voll Angestellter und ein paar Männer, die darauf warteten, zum Muschizelt gebracht zu werden. Sie sahen sich nervös um, um Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Sie würden nicht enttäuscht werden: Weiter hinten wartete Barbara mit ihren üppigen Reizen.
Die anderen Städter – Onkel Al nannte sie Gadjos – hatten sich bereits einen Weg durch die Menagerie in Chapiteau gebahnt, das im Rhythmus der frenetischen Musik zu pulsieren schien. Das Orchester peitschte wie üblich ohrenbetäubend laut durch sein Repertoire. Den Ablauf kannte ich auswendig – gerade jetzt zogen die letzten der Parade aus der Manege, und Lotti, die Seiltänzerin, erklomm ihre Leiter.
Ich starrte Grady an und versuchte zu begreifen, was er da sagte. Er schaute sich um, dann beugte er sich zu mir vor.
„Außerdem“, flüsterte er und blickte mir in die Augen, „kommt es mir so vor, als hättest du gerade ’ne Menge zu verlieren.“ Er hob die Augenbrauen, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Im Zelt brandete tosender Applaus auf, und das Orchester wechselte nahtlos zum Gounod-Walzer. Ich drehte mich unwillkürlich nach der Menagerie um, denn der Walzer gab den Einsatz für die Elefantennummer. Marlena stieg entweder gerade auf oder saß bereits auf Rosies Kopf.
„Ich muss los“, sagte ich.
„Setz dich“, antwortete Grady. „Iss. Wenn du dich aus dem Staub machen willst, bekommst du vielleicht eine ganze Weile nichts mehr zu beißen.“
In diesem Augenblick brach die Musik mit einem Kreischen ab. Die Blasinstrumente und das Schlagzeug rasselten scheußlich zusammen – die Trompeten und Piccoloflöten schlitterten in ein Katzengeheule, eine Tuba rülpste, und das hohe Klirren eines Beckens waberte durch das Chapiteau über unsere Köpfe hinweg und verlor sich.
Grady erstarrte, über seinem Burger gebeugt, mit aufgerissenem Mund und abgespreizten kleinen Fingern.
Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand rührte sich – alle Blicke hingen am Chapiteau. Ein paar Büschel Stroh taumelten träge über die harte Erde.
„Was ist los? Was ist passiert?“, fragte ich.
„Psst“, zischte Grady.
Das Orchester spielte jetzt „Stars and Stripes Forever“.
„Oh Gott. Verdammter Mist!“ Grady warf seinen Hamburger auf den Tisch und sprang so hastig auf, dass die Bank umfiel.
„Was? Was ist los?“, schrie ich, denn er war bereits losgerannt.
„Der Katastrophenmarsch!“, rief er mir über die Schulter zu.
Ich wirbelte herum zum Koch, der eben seine Schürzenbänder aufriss. „Wovon zum Teufel redet er?“
„Vom Katastrophenmarsch“, sagte er und zerrte sich die Schürze übern Kopf. „Das heißt, es ist was Schlimmes passiert – was echt Schlimmes.“
„Was denn?“
„Könnte alles Mögliche sein – ein Feuer im Chapiteau, eine Stampede, irgendwas. Gottverdammt. Die armen Gadjos haben wahrscheinlich noch keinen Schimmer.“ Er bückte sich unter der Klapptür hindurch und lief los.
Chaos – Süßwarenverkäufer hechteten über Theken, Arbeiter taumelten hinter Zelttüren hervor, Racklos rannten quer über den Platz: Wer auch immer etwas mit Benzinis Spektakulärster Show der Welt zu tun hatte, raste auf das Chapiteau zu.
Diamond Joe überholte mich in einer Art vollem Galopp.
„Jacob – die Menagerie“, rief er. „Die Tiere sind los. Schnell, beeil dich!“
Das musste er mir nicht zweimal sagen. Marlena war in dem Zelt.
Als ich näher kam, spürte ich ein Grollen, das mir eine Heidenangst einjagte, denn es war tiefer als Lärm. Der Boden vibrierte.
Ich taumelte hinein und stand vor einem Yak – einer Wand aus gelocktem Fell mit stampfenden Hufen, roten, geblähten Nüstern und verdrehten Augen. Es galoppierte so nah an mir vorbei, dass ich mich nach hinten warf und gegen die Zeltwand drückte, um nicht von den gekrümmten Hörnern aufgespießt zu werden. An seine Schulter klammerte sich eine verängstigte Hyäne.
Der Verkaufsstand in der Mitte der Menagerie war dem Boden gleichgemacht worden, an seiner Stelle wogten gefleckte und gestreifte Flanken, Hufe, Schwänze und Klauen, alles knurrte, fauchte, brüllte oder wieherte. Ein Eisbär überragte alles andere und schlug blindlings mit den tellergroßen Tatzen um sich. Er erwischte ein Lama und warf es um – klatsch. Das Lama krachte zu Boden und streckte Hals und Beine von sich wie die fünf Zacken eines Sterns. Schimpansen hangelten sich schreiend und schnatternd an Seilen entlang, um außer Reichweite der Raubkatzen zu bleiben. Ein Zebra schlug mit aufgerissenen Augen Haken, dabei kam es einem kauernden Löwen zu nahe, der nach dem Zebra sprang, es verfehlte und dann dicht über dem Boden davonjagte.
Verzweifelt suche ich das Zelt nach Marlena ab, aber ich sah nur eine Raubkatze durch den Verbindungsgang zum Chapiteau gleiten – es war ein Panther, und als sein geschmeidiger, schwarzer Körper im Tunnel verschwand, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Wenn die Gadjos jetzt noch ahnungslos waren,würde sich das bald ändern. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann kam er – der erste Schrei, dann noch einer und noch einer, und schließlich explodierte alles unter dem Donnern der Menschen, die versuchten, an den anderen vorbei und das Gradin hinunterzugelangen. Das Orchester brach ein zweites mal kreischend ab, diesmal blieb es still. Ich schloss die Augen: Gott, lass sie bitte hinten raus fliehen. Bitte, Gott, sie dürfen es nicht hier vorne versuchen.
Ich machte die Augen wieder auf und suchte weiter verzweifelt die Menagerie nach ihr ab. Wie schwer kann es denn sein, einen Elefanten und ein Mädchen zu finden, verdammt!
Als ich ihre pinkfarbenen Pailletten sah, schrie ich vor Erleichterung beinahe auf – vielleicht tat ich es sogar. Ich weiß es nicht mehr.
Sie stand mit gegenüber vor der Rundleinwand, so ruhig wie ein Bergsee. Ihre Pailletten glitzerten wie flüssige Diamanten, wie ein funkelndes Leuchtfeuer zwischen den bunten Fellen. Sie sah mich ebenfalls, und wir blickten einander eine Ewigkeit in die Augen. Sie wirkte gelassen und träge. Und lächelte sogar. Ich wollte mir einen Weg zu ihr bahnen, aber etwas in ihrer Miene ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.
Vor ihr stand dieser Dreckskerl, er drehte ihr den Rücken zu, brüllte mit hochrotem Kopf und schwang seinen Stock mit der Silberspitze. Sein Seidenzylinder lag neben ihm im Stroh.
Sie griff nach etwas. Eine Giraffe rannte zwischen uns hindurch – selbst in Panik bewegte sich ihr Hals anmutig –, und als ich wieder freie Sicht hatte, erkannte ich, dass sie eine Eisenstange gepackt hielt. Sie umfasste sie ganz locker, das eine Ende ließ sie auf dem Boden aufliegen. Sie sah mich wieder an, tief in Gedanken. Dann richtete sie den Blick auf seinen bloßen Hinterkopf.
„Großer Gott.“ Plötzlich verstand ich. Ich stolperte schreiend vorwärts, obwohl meine Stimme sie auf keinen Fall erreichen konnte. „Tu das nicht! Tu das nicht!
Sie hob die Stange und schlug zu, dabei spaltete sie seinen Kopf wie eine Wassermelone. Sein Schädel platzte, er riss die Augen auf, und sein Mund erstarrte zu einem O. Dann fiel er auf die Knie und kippte vornüber ins Stroh.
Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte, noch nicht einmal, als mir ein junger Orang-Utan seine geschmeidigen Arme um die Beine schlang.
So lange ist es her. So lange. Und es verfolgt mich noch immer.

Ich rede nicht oft über damals. Habe ich noch nie. Ich weiß nicht, warum – fast sieben Jahre lang habe ich beim Zirkus gearbeitet, und wenn das keinen Gesprächsstoff liefert, was dann.
Ehrlich gesagt weiß ich, warum. Ich habe mir nie getraut. Ich hatte Angst, es würde mir herausrutschen. Ich wusste, wie wichtig es war, ihr Geheimnis zu hüten, und das tat ich auch – ihr Leben lang und darüber hinaus.
Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Adelbert von Chamisso – Peter Schlemihls wundersame Geschichte




„So, so!“ wiederholte er, „bedenklich“, und er brach in ein lautes Gelächter gegen mich aus. „Und wenn ich fragen darf, was ist denn das für ein Ding, Ihre Seele? Haben Sie es je gesehen, und was denken Sie damit anzufangen, wenn Sie einst tot sind? Seien Sie doch froh, einen Liebhaber zu finden, der Ihnen bei Lebenszeit noch den Nachlaß dieses X, dieser galvanischen Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit, und was alles das närrische Ding sein soll, mit etwas Wirklichem bezahlen will, nämlich mit Ihrem leibhaftigen Schatten, durch den Sie zu der Hand Ihrer Geliebten und zu der Erfüllung aller Ihrer Wünsche gelangen können.“