Dienstag, 19. Juni 2012

John Connolly – Das Buch der verlorenen Dinge

Der Mund des Schützen öffnete sich, und seine Lippen formten Worte, doch es kam kein Ton heraus. Seine Augen fixierten den Jungen. David sah, wie sie sich verengten, als verstünde der Schütze nicht, was gesagt wurde oder was mit ihm geschah, während er dort im Schnee kniete und die Blutlache um ihn herum immer größer wurde.
Dann weiteten sie sich langsam und brachen, als der Tod ihm die Erklärung gab.

Sonntag, 17. Juni 2012

Eric Malpass – Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgendämmerung und ein Himmel wie kalter Haferbrei. In den Winkeln des Daches noch ein paar Flecken nassen Schnees.
In dem großen, weitläufigen Haus lag die Familie im sonntagmorgendlichen Winterschlaf, eingekuschelt gegen die Kälte und den kommenden Tag.
Aber Gaylord war gegen Kälte unempfindlich. Der junge Gaylord Pentecost war gegen die meisten Dinge unempfindlich. Gleich nach dem Aufwachen hopste er erst mal ein bisschen auf dem Bett herum. Als ihm das langweilig wurde, zog er die Schlafanzughose auf seine nichtvorhandene Taille herauf und machte sich auf eine Besuchstour durch das Haus.
Zuerst war Opa an der Reihe. In seinem Zimmer war es noch dunkel. Gaylord zog die Vorhänge auf.
Die Vorhänge hingen an Messingringen. Wenn andere sie zurückzogen, klapperten sie wie Kastagnetten. Wenn Gaylord sie zurückzog, klang es wie eine Maschinengewehrsalve.
Opa öffnete nicht einmal die Augen. „Verschwinde, zum Teufel noch einmal“, sagte er.
Opa wirkte unter der Bettdecke wie ein massiver, kleiner runder Berg. Gaylord nahm einen Anlauf und landete mitten auf dem Berg. „Ich bin ein Ritter“, schrie er. „Und du bist mein Schlachtross.“
„Ich bin kein Schlachtross“, sagte Opa. „Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben will. Herrgott noch mal.“
Neugierig berührte Gaylord mit dem Finger eins der faltigen Augenlider. Er schob das Lid nach oben und betrachtete nachdenklich das gelbe, unheilverkündende Auge. Er ließ das Lid wieder herunterklappen. „Soll ich dir eine Tasse Tee machen?“
„Wenn du recht lange dazu brauchst, ja“, sagte Opa. Gaylord kletterte von ihm herunter. „Geht wie der Blitz“, antwortete er vergnügt.
„Bitte, lass dir Zeit“, sagte Opa.
Gaylord spazierte weiter zu Großtante Marygold. „Willst du eine Tasse Tee haben?“ schrie er von der Tür her.
Aber Großtante Marygold, deren Hörapparat neben der Brille und den falschen Zähnen auf dem Nachttisch lag, verhielt sich mucksmäuschenstill und stellte wieder einmal fest, dass bei solchen Gelegenheiten ihre Taubheit kein Leiden war, sondern sich als Segen und himmlische Zuflucht entpuppte.
Gaylord begab sich zu Tante Rosie. Tante Rosies längliches, blasses Gesicht wirkte auf dem weißen Kissen nur wie ein gelblicher Fleck. Beim Anblick ihres Neffen wurde es keineswegs fröhlicher. „Was liest du denn da?“ fragte Gaylord.
„Ein Buch.“
„Wie heißt es?“
Psychopathologie des Alltags“, sagte Tante Rosie. „Bist du jetzt klüger?“ fragte sie mürrisch.
Wie Kohlen in eine Schütte purzelten die Silben in Gaylords Gehirn und lagen dort in wildem Durcheinander. Er trat dicht an das Bett heran und spähte Tante Rosie über die Schulter.
„Sind Bilder drin?“
„Nein“, sagte Tante Rosie.
„Wovon handelt es denn?“
„Von Psychopathologie“, sagte Tante Rosie. „im täglichen Leben“, fügte sie belehrend hinzu.
Gaylord zog versuchsweise an ihrer Bettdecke. „Darf ich in dein Bett kommen?“
Mit Tante Rosie ging urplötzlich eine Veränderung vor sich. Wie eine in die Enge getriebene Katze krümmte sie sich zusammen. Ihre Lippen spannten sich über den Zähnen. Sie umklammerte ihr Buch wie ein Radfahrer die Lenkstange, wenn er ohne Bremse bergab rast. „Ausgerechnet in der einzigen Stunde am Tag, in der ich vor dieser verflixten, verrückten Familie Ruhe habe, musst du hier reinkommen! Raus jetzt und lass mich weiterlesen. Geh zu Becky. Sie hat bestimmt gern jemand bei sich im Bett, selbst dich.“ Vor Erregung zitternd, starrte sie in ihr Buch.
Gaylord betrachtete sie interessiert. Das hatte er schon oft bei ihr erlebt. Man unterhielt sich ganz normal mit Tante Rosie, und plötzlich tat sie, als wollte sie einen anspringen. Sehr interessant. Natürlich wusste er, woran das lag. Das hatte er von Opa gehört. Er kletterte auf das Fußende des Messingbetts. Es hatte wohl nicht viel Sinn, länger hierzubleiben. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
Tante Rosie gab keine Antwort. Gaylord nahm sich vor, Tante Becky zu besuchen.
Tante Becky war wie Erdbeeren mit Sahne, ganz Rüschen und Spitzen. Gaylord hatte Tante Becky gern. Er war so gut wie entschlossen, sie zu heiraten, wenn er erst einmal groß war. Jetzt zupfte er probeweise an ihrer Bettdecke. „Schlüpf rein“, sagte Tante Becky.
Er schlüpfte hinein. Tante Becky war warm und weich und roch gut. Gaylord war weder warm noch weich. Es ist, als habe man einen großen Fisch im Bett, dachte Becky. „Wo warst du denn schon überall?“ fragte sie.
„Bei Tante Rosie.“
„Und was hat sie getan?“
„Gelesen.“
Tante Becky schien amüsiert. „Was denn?“
Gaylord dachte an den Haufen Silben. „Psychologo... irgendwas mit Lokomotive“, sagte er auf gut Glück.
„Großer Gott.“
„Und dann wurde sie ganz komisch.“
„Komisch?“
„Ganz verdreht. Ich glaube, sie wollte mich nicht bei sich haben.“
„Arme Rosie“, murmelte Becky faul und zufrieden.
Jetzt fand Gaylord es an der Zeit, Opas Diagnose anzubringen. „Sind ihre verflixten Nerven“, sagte er.
Tante Becky warf den Kopf zurück und lachte. Zwischen ihren weißen Zähnen konnte Gaylord die kleine rosa Zunge sehen. Er streckte einen Finger vor und berührte sie. „Was hast du denn gemacht?“ fragte er.
„Geträumt.“
„Wovon?“
„Von Männern“, erwiderte Becky und rekelte sich genussvoll. Ziemlich langweiliger Traum, fand Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
„Das wäre himmlisch.“
Gaylord krabbelte aus dem Bett, zog wieder seinen Schlafanzug hoch und trabte zur Tür.
„Geht wie der Blitz“, verkündete er. Dann ging er zu Mummi und Paps.
Zu seiner Verwunderung lag Mummi allein im Bett.
„Mummi, wo ist denn Paps?“ fragte er.
„Auf dem Dachboden“, sagte Mummi.
Gaylord ging zum Toilettentisch und spielte mit den Sachen herum, die dort lagen. „Warum ist Paps auf dem Dachboden, Mummi?“ fragte er.
„Weil er ein Schuft ist, und wir wieder einmal verschiedener Meinung waren“, sagte Mummi.
„Worüber denn?“ fragte Gaylord.
„Über Geld“, antwortete Mummi.
Gaylord kletterte auf den Dachboden. Paps lag dort eingewicktelt in einen Wust von Armeewolldecken auf einem Feldbett und sah aus wie eine ägyptische Mumie, deren Verpackung sich gelöst hat. Verzweiflungsvoll suchte er, sich schlafend zu stellen.
„Warum schläfst du denn auf dem Dachboden, Paps?“ fragte Gaylord.
„Ich schlafe ja gar nicht“, sagte Paps. „Ich habe geschlafen, aber man hat mich brutal geweckt.“
Sanfte Vorwürfe gehörten auch zu den Dingen, gegen die Gaylord unempfindlich war. „Es muss doch ziemlich kalt sein auf dem Dachboden“, sagte er.
„Ist es auch“, sagte Paps. „Saukalt.“
„Mummi schien es sehr gemütlich zu haben“, sagte Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“
„Bitte“, sagte Paps und drehte sich zur Wand.
Voller Eifer begab sich Gaylord an sein karitatives Werk. Unten in der Küche drehte er erst einmal den Kaltwasserhahn weit auf. Dann presste er den Finger unter die Hahnöffnung. Köstlich spritze das Wasser durch die Küche und über Gaylord. Er betrachtete seinen triefenden Schlafanzug und strich im Geiste Mummi von seiner Teeliste.