Ein Buch, wenn es so zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem was zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an; wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefern steckt, den beißt’s auch nicht. Wilhelm Busch.
Dienstag, 13. November 2012
Erin Morgenstern – Der Nachtzirkus
Die Liebenden.
Zwei Gestalten stehen vollkommen reglos auf einem
Sockel inmitten der Menschenmenge, so hoch oben, dass
sie von allen Seiten deutlich zu sehen sind.
Die Frau trägt ein Kleid, das ein Hochzeitskleid für eine
Ballerina sein könnte, weiß, duftig und mit schwarzen
Bändern besetzt, die in der Nachtluft flattern. Ihre Beine
stecken in getreiften Strümpfen, ihre Füße in hohen
schwarzen Stiefeletten. Ihr dunkles Haar ist lose hoch-
gesteckt und mit weißen Federn geschmückt.
Ihr Gefährte ist ein gutaussehender Mann, etwas größer
als sie, in einem tadellos sitzenden schwarzen Nadel-
streifenanzug. Sein Hemd ist strahlend weiß, die Krawatte
schwarz und perfekt gebunden. Auf seinem Kopf sitzt
ein schwarzer Bowlerhut.
Sie stehen engumschlungen da, ohne sich zu berühren,
die Köpfe einander zugeneigt. Ihre Lippen sind im
Augenblick vor (oder nach) dem Kuss erstarrt.
Du betrachtest sie eine Weile, doch sie bewegen sich
nicht. Weder Fingerspitzen noch Augenwimpern. Nichts
weist darauf hin, dass sie auch nur atmen.
Viele Besucher sehen sie nur kurz an und gehen dann
weiter, doch je länger du sie beobachtest, umso deutlicher
erkennst du minimale Veränderungen in der Biegung
einer Hand, die neben einem Arm schwebt, im Winkel
eines perfekt ausbalancierten Beins. Jeder bewegt sich auf
den anderen zu.
Aber sie berühren sich nicht.
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