Dienstag, 26. Februar 2013

Victor Hugo – Der Glöckner von Notre-Dame












Die Zeit verrann. Er befand sich nun schon mindestens eineinhalb Stunden hier, zerrissen, mißhandelt, unaufhörlich verspottet und beinahe gesteinigt.

Plötzlich zerrte er von neuem in verdoppelter Verzweiflung an seinen Ketten, so daß das ganze Gerüst erzitterte. Jäh brach er das bisher so hartnäckig bewährte Schweigen und schrie mit heiserer, wutverzerrter Stimme, die eher einem Bellen als einem menschlichen Ruf glich und das Spottgebrüll der Menge übertönte: „Wasser!“

Dieser Notschrei bewirkte statt des geringsten Mitgefühls eine Steigerung des Vergnügens des süßen Pariser Pöbels, der dicht um das Gerüst stand und der, das muß leider gesagt werden, als Masse und in seiner Mehrheit damals kaum weniger grausam und vertiert war als die schreckliche Horde von Verbrechern, zu der wir den Leser bereits geführt haben, und die ganz einfach die niedrigste Schicht der Bevölkerung war.

Nicht eine einzige Stimme erhob sich Rings um den unglücklichen Delinquenten, die ihn nicht wegen seines Durstes erst recht verhöhnt hätte. Gewiß, in diesem Augenblick sah er mit seinem geröteten, schweißüberströmten Gesicht, seinem halbirren Auge, seinem vor Wut und Schmerz schäumenden Mund und seiner halb herausgestreckten Zunge weit eher grotesk und abstoßend aus als bemitleidenswert. Es muß auch gesagt werden, daß, wenn sich in dieser Herde irgendeine gute, mitleidige Seele eines Bürgers oder einer Bürgerin gefunden hätte, die dieser armseligen, gequälten Kreatur hätte ein Glas Wasser bringen wollen, rings um das Schandgerüst ein derartiges Vorurteil von Schande und Schmach herrschte, daß es völlig ausgereicht hätte, um den barmherzigen Samariter zurückzustoßen.
Nach einigen Minuten warf Quasimodo einen wahrhaft verzweifelten Blick auf die Menge und wiederholte mit noch herzzerreißenderer Stimme: „Wasser!“

Und alles tobte vor Lachen.

„Trink das hier!“ rief Robin Poussepain und warf ihm einen mit Wasser aus dem Rinnstein getränkten Schwamm mitten ins Gesicht. „Sauf doch, du tauber Kerl! Ich bin dein Schuldner.“

Eine Frau schleuderte Quasimodo einen Stein an den Kopf.

„Das wird dich lehren“, schrie sie, „uns mit deinem verdammten Gebimmel zu wecken!“

„Heda, mein Junge“, brüllte ein lahmer Kerl und versuchte, ihn mit seiner Krücke zu erreichen, „wirst du noch mal deine Hexereien von den Notre-Dame-Türmen herunter betreiben?“

„Da hast du’n Napf zum Trinken!“ grölte ein Mann und schleuderte Quasimodo einen zerbrochenen Krug gegen die Brust. „Bloß weil du meiner Frau vor die Augen geraten bist, hat sie’n Kind mit zwei Köpfen geboren!“

„Und meine Katze ’n Kater mit sechs Beinen!“ kläffte ein altes Weibsstück und warf einen Ziegelstein nach ihm.

„Wasser!“ Wiederholte Quasimodo zum drittenmal keuchend.

In diesem Augenblick sah er, wie die Menge auseinanderwich. Ein wunderlich gekleidetes junges Mädchen trat daraus hervor. Es wurde von einer kleinen weißen Ziege mit vergoldeten Hörnern begleitet und hielt ein klirrendes Tamburin in der Hand.

Quasimodo sah ihr mit verkniffenem Auge entgegen. Das war ja die Zigeunerin, die er in der vergangenen Nacht fortzuschleppen versucht hatte, ein Angriff, von dem er dunkel fühlte, daß er ihm die Auspeitschung zugezogen haben könnte, was übrigens keineswegs der Wahrheit entsprach; denn eigentlich war er bestraft worden, weil er taub war und ein Tauber über ihn zu Gericht gesessen hatte. Er zweifelte nicht, daß sie sich nun ebenfalls rächen käme und ihm Schläge versetzen würde wie die anderen.

Er sah sie auch wirklich flink die Leiter heraufklettern. Zorn und Trotz erstickten ihn fast. Am liebsten hätte er das ganze Gerüst zum Einsturz bringen mögen, und wenn die aus seinem Auge zuckenden Blitze hätten töten können, so wäre die Ägypterin zu Staub zermalmt worden, ehe sie die Plattform erreichte.

Wortlos trat sie zu dem Delinquenten, der sich vergebens in seinen Fesseln wand, um sich ihr zu entziehen, löste eine Kürbisflasche von ihrem Gürtel und setze es sanft dem Unglücklichen an die aufgesprungenen Lippen.

Da sah man aus dem bisher so trockenen, zornglühenden Auge eine große Träne rollen, die langsam über das mißgestaltete und so lange von Verzweiflung gezeichnete Gesicht rann. Es war wohl die erste, die der unselige Mensch vergoß.