Mittwoch, 31. Oktober 2012

Eric-Emmanuel Schmitt – Die Fälschung

Als Georges ihr mitteilte, er wolle sie verlassen, brauchte Aimée einige Minuten, um zu begreifen, dass es sich weder um einen bösen Traum, noch um einen Scherz handelte. Sagte wirklich er das? Meinte er wirklich sie? Als Aimée klar wurde, dass tatsächlich er ihr diesen schweren Schlag versetzte, überprüfte sie, ob sie noch am Leben war. Für diese Diagnose brauchte sie allerdings etwas länger: Das Herz war ihr stehengeblieben, das Blut in den Adern gestockt, eine marmorkalte Stille hatte sie versteinert, daran gehindert, auch nur mit der Wimper zu zucken... Doch sie hörte Georges noch immer – „du musst verstehen, Liebling, es geht so nicht weiter, alles hat ein Ende“ –, sah sein Hemd unter den Achseln schweißnass werden, nahm diesen aufwühlenden Geruch wahr: nach Mann, nach Seife und mit Lavendel aufgefrischter Wäsche... Erstaunt, fast enttäuscht stellte sie fest, dass sie noch am Leben war.
Was Georges da so sanft und freundlich bemüht wieder und wieder sagte, war ein einziger Widerspruch in sich: Er erklärte, von ihr fortgehen zu wollen, und behauptete, dies sei nicht weiter schlimm.
„Wir haben eine gute Zeit gehabt zusammen. Dir verdanke ich meine glücklichsten Momente. Und ich weiß, mein letzter Gedanke wird einzig dir gelten. Doch ich habe nun einmal Familie. Hättest du mich etwa geliebt, wenn ich einer von diesen Männern gewesen wäre, die sich einfach davonschleichen, einer, der sich seinen Verpflichtungen entzieht, Frau, Heim, Kinder und Enkel auf ein Fingerschnalzen hin vernachlässigt?“

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Haruki Murakami – Die Bäckereiüberfälle

Mit einer Bedächtigkeit, die uns zur Weißglut trieb, und einer Sorgfalt, als ob sie sich für eine Kommode und einen Frisierspiegel entschiede, hob Tantchen einen Krapfen und ein Melonenteilchen auf ihr Tablett. Allerdings nicht, um sie gleich zu erwerben. Der Krapfen und das Melonenteilchen waren für sie nicht mehr als eine These. Beziehungsweise weit und fern wie der hohe Norden. Tantchen brauchte noch ein Weilchen, um sich daran zu gewöhnen.
Mit der verinnenden Zeit verlor zuerst das Melonenteilchen seinen Status als These. Warum, schüttelte Tantchen den Kopf, habe ich eigentlich ein Melonenteilchen gewählt? Das kann nicht zur Debatte stehen. Melonenteilchen sind doch viel zu süß.
Sie legte es wieder zurück und schob nach kurzen Nachdenken zwei Croissants auf ihr Tablett. Die Geburt einer neuen These. Der Eisberg hatte sich eine Spur bewegt, und zwischen den Wolken lugten gar die Strahlen der Frühlingssonne hervor.
„Das dauert“, flüsterte mein Kumpel. „Legen wir die Alte gleich mit um!“
„Nur die Ruhe“, bremste ich ihn.
Den Bäckermeister focht das alles nicht an, er lauschte seinem Radiorekorder, aus dem Wagner erscholl. Ob es sich für ein KP-Mitglied geziemt, Wagner zu hören, weiß ich nicht.
Tantchen schaute unverwandt auf ihre Croissants und den Krapfen. Etwas stimmte nicht. War unnatürlich. Croissants und Krapfen durften offenbar auf gar keinen Fall Seite an Seite beieinanderliegen. Sie schien zu spüren, dass hier, ja, unverträgliche Ideen miteinander stritten. Das beladene Tablett schwankte in ihrer Hand und klickte wie ein defekter Kühlschrankthermostat. Natürlich schwankte und klickte das Tablett nicht wirklich. Es schwankte gewissermaßen – metaphorisch. Klick.
„Ich leg sie um!“, sagte mein Kumpel. Die Mischung aus Hunger und Wagner und Tantchen hatte seine nervöse Spannung verletzlich gemacht, wie eine Pfirsichhaut. Ich schüttelte stumm den Kopf.
Derweil ließ Tantchen das Tablett in ihrer Hand wieder eine dostojewskische Hölle durchwandern. Zunächst trat der Krapfen auf die Tribüne und hielt eine Rede an das römische Volk, die man durchaus als bewegend bezeichnen konnte. Herrliche Phraseologie, perfekte Rhetorik, tragender Bariton... alle klatschten, Applaus, Applaus. Danach gingen die Croissants aufs Podium und redeten irgendeinen Unsinn bezüglich Verkehrsampeln. Linksabbieger fahren bei grünem Licht für den Geradeausverkehr langsam vor und biegen erst ab, nachdem sie sich vergewissert haben, dass kein Gegenverkehr herrscht. Etwas in der Art. Das römische Volk wusste nicht recht, wovon die Rede war, klatschte aber, denn es hörte sich kompliziert an: Applaus, Applaus. Der Beifall für die Croissants war ein bisschen lauter. Und der Krapfen wurde wieder zurückgelegt.
Auf Tantchens Tablett herrschte nun Perfektion von extremer Simplizität: zwei Croissants.
Und dann verließ Tantchen die Bäckerei.