Mittwoch, 25. Juli 2012

Jonathan Carroll – Das hölzerne Meer

Eines Tages kommt ein Kerl aufs Revier und führt einen Hund an der Leine, wie man ihn noch nie gesehen hat. Es ist eine Mischung, aber hauptsächlich ein Pittbull, mit braun-schwarzen Wirbeln gezeichnet, die ihn aussehen lassen, wie ein Marmorkuchen. Aber das ist auch schon alles, was an ihm normal ist, denn der Hund hat nur dreieinhalb Beine, ihm fehlt ein Auge, und er atmet komisch. Irgendwie aus dem Mundwinkel, aber genau kann man es nicht sagen. So wie die Luft herauskommt, klingt es, als ob er „Michelle“ vor sich hinpfeift. Auf dem Kopf hat er zwei wulstige Narben. Er ist so verbaut, dass wir ihn alle anstarren, als wäre er soeben mit der Concorde aus der Hölle gekommen.
So beschissen er aussah, hatte der Hund aber doch ein sehr hübsches rotes Lederhalsband. Daran hing ein kleines, flaches Silberherz, in das der Name „Old Vertue“ eingraviert war. Der Alte Tugendsam. Und weiter nichts: kein Besitzer, keine Adresse, keine Telefonnummer. Nur Old Vertue. Und er ist erschöpft. Mitten zwischen allen Leuten dort ließ er sich auf den Boden fallen und fing an zu schnarchen. Der Typ, der ihn gebracht hatte, sagte, er hätte den Hund schlafend auf dem Parkplatz vom Grand Union Supermarket gefunden. Er hätte keine Ahnung, was zum Teufel er mit ihm anfangen sollte, aber der Hund würde bestimmt überfahren werden, wenn er da sein Nickerchen machte, und deshalb hätte er ihn hergebracht.
Die anderen meinten, wir sollten den Hund ins nächste Tierheim schaffen und basta. Aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ich machte ihm ein Bett in meinem Büro, kaufte Hundefutter und zwei orangefarbene Näpfe. Er schlief zwei Tage ununterbrochen. Als er schließlich aufwachte, lag er in seinem Bett und starrte mich mit düsteren Augen an. Besser gesagt mit einem düsteren Auge. Als jemand auf dem Revier fragte, weshalb ich ihn behielte, sagte ich, dieser Hund hat alles gesehen. Ich bin der Polizeichef, und deshalb hat keiner protestiert.



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