Mittwoch, 20. April 2011

F. Scott Fitzgerald – Der seltsame Fall des Benjamin Button

Man schnitt dem Zuwachs der Familie Button die schütteren Haare kurz, färbte sie unnatürlich schwarz und rasierte ihm das Gesicht so glatt, dass es glänzte, man steckte ihn in einen Anzug für kleine Jungen, den ein verdutzter Schneider nach strikten Anweisungen angefertigt hatte, und doch vermochte Roger Button auch nach alledem nicht darüber hinwegzusehen, dass sein Sohn wohl schwerlich den Vorstellungen entsprach, die eine Familie sich normalerweise von ihrem ersten Baby macht. Schließlich maß Benjamin Button – denn so und nicht Methusalem, was zwar angemessen, aber gehässig gewesen wäre, hatte man ihn genannt – trotz seiner altershalber gebückten Haltung einen Meter siebzig, was seine Kleiderebenso wenig verbargen, wie das Stutzen und Färben seiner Augenbrauen die Tatsache verhehlen konnte, dass die Augen darunter verwaschen, wässrig und müde waren. Und wirklich hatte das im Voraus verpflichtete Kindermädchen gleich nach dem ersten Blick in heller Empörung das Haus verlassen.
Mr. Button aber wich trotz allem keinen Zoll von seiner Haltung ab. Benjamin war ein Baby, und genau das sollte er auch bleiben. Anfänglich hatte der gestrenge Vater sogar verfügt, dass Benjamin, wenn er keine warme Milch möge, eben überhaupt keine Nahrung bekommen solle, hatte sich dann aber erweichen lassen und seinem Sohn zumindest Butterbrote und immerhin – als Kompromiss – auch Hafergrütze erlaubt. Eines Tages brachte er eine Rassel mit nach Hause, drückte sie Benjamin in die Hand und beharrte starrsinnig darauf, dass dieser damit „spielen“ solle, worauf der Alte das Ding mit gottergebener Miene in die Hand nahm und man ihn den ganzen Tag in regelmäßigen Abständen artig klappern hörte.

Dienstag, 19. April 2011

Eric-Emmanuel Schmitt – Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

„Warum lächelst du nie, Momo?“ fragte mich Monsieur Ibrahim.
Diese Frage traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht, ein Tiefschlag, auf den ich nicht vorbereitet war.
„Lächeln ist nur was für reiche Leute, Monsieur Ibrahim. Das kann ich mir nicht leisten.“
Sicher um mich zu ärgern, fing er an zu lächeln.
„Meinst du vielleicht, ich bin reich?“
„Sie haben doch immer Scheine in der Kasse. Ich kenne keinen, der den ganzen Tag so viele Scheine sieht.“
„Aber die Scheine brauche ich, um die Ware zu bezahlen und die Miete. Am Monatsende, weißt du, bleiben nicht allzuviele davon übrig.“
Und er lächelte noch mehr, als wollte er mich ärgern.
„M’sieur Ibrahim, wenn ich sage, dass lächeln nur was für reiche Leute ist, dann will ich damit sagen, dass es nur was für glückliche Leute ist.“
„Na, da irrst du dich aber. Es ist das Lächeln, das glücklich macht.“
„Quatsch.“
„Versuch’s.“
„Quatsch“, sage ich.
„Bist du höflich, Momo?“
„Muss ich sein, sonst krieg ich was hinter die Löffel.“
„Höflich sein ist gut. Freundlich sein ist besser. Versuch es mal mit einem Lächeln, und du wirst sehen.“
Nun gut, wie auch immer, wenn man so nett darum gebeten wird von Monsieur Ibrahim, der mir eine Büchse Sauerkraut allerfeinster Qualität rüberschiebt, warum es dann nicht mal versuchen …

Samstag, 16. April 2011

Brom – Der Kinderdieb

Der Junge trat zu ihr und und kniete sich neben sie. Während sie, die Hände vors Gesicht geschlagen, dasaß und weinte, erzählte er ihr von einer verzauberten Insel, auf die keine Erwachsenen durften. Dort gab es andere Kinder wie sie, die gerne lachten und spielten. Dort konnte man großartige Abenteuer erleben.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und brachte sogar ein Lächeln zustande, während sie über die alberne Geschichte den Kopf schüttelte. Doch als er sie einlud ihn zu begleiten, erwischte sie sich dabei, ihm zu glauben. Und obwohl eine Stimme tief in ihrem Inneren ihr sagte, dass sie sich von diesem Jungen fernhalten sollte, wünschte sie sich in jenem Moment nichts sehnlicher, als mit ihm zu gehen.
Sie ließ den Blick durch das winzige Zimmer schweifen, in dem man ihr so viel geraubt hatte. Hier gab es nichts außer schmerzlichen Erinnerungen. Was hatte sie also zu verlieren?
Als der Junge sich erneut anschickte zu gehen, zog sie sich eilig an und folgte ihm hinaus in die Nacht.
Hätte das Mädchen nur mit den anderen Jungen und Mädchen reden können, jenen etwa, die dem goldäugigen Jungen bereits gefolgt waren, dann hätte sie gewusst, dass man immer noch etwas zu verlieren hat.