Mittwoch, 27. Juli 2011

William Shakespeare – Ein Sommernachtstraum

   









HIPPOLYTA   Was diese Liebenden erzählen, mein Gemahl,
Ist wundervoll.

THESEUS   Mehr wundervoll als wahr.
Ich glaubte nie an diese Feenpossen
Und Fabelein. Verliebte und Verrückte
Sind beide von so brausendem Gehirn,
So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,
Was nie die kühlere Vernunft begreift.
Wahnwitzige, Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle fasst:
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht,
Nicht minder irr, die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.
Des Dichters Aug, in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewalt'ge Einbildung;
Empfindet sie nur irgendeine Freude,
Sie ahnet einen Bringer dieser Freude;
Und in der Nacht, wenn uns ein Graun befällt,
Wie leicht, dass man den Busch für einen Bären hält!

HIPPOLYTA   Doch diese ganze Nachtbegebenheit
Und ihrer aller Sinn, zugleich verwandelt,
Bezeugen mehr als Spiel der Einbildung:
Es wird daraus ein Ganzes voll Bestand,
Doch seltsam immer noch und wundervoll.

Montag, 25. Juli 2011

Pamela Lynwood Travers – Mary Poppins

Das Sonnenlicht drang zum Fenster herein, flimmerte auf den weißen Wänden und tanzte über die Bettchen, in denen die Kleinen lagen.
„Mach, dass du weiterkommst! Du scheinst mir gerade auf die Augen“, sagte John laut.
„Tut mir leid“, erklärte das Sonnenlicht. „Ich kann’s nicht ändern. Ich muss nun einmal das Zimmer durchqueren. Befehl ist Befehl. Ich muss in einem Tag von Osten nach Westen wandern, und mein Weg führt durch dieses Kinderzimmer. Tut mir leid! Mach deine Augen zu, dann merkst du nichts von mir.“
Der goldene Sonnenstrahl machte sich lang und wanderte weiter durchs Zimmer. Offenbar beeilte er sich, um John einen Gefallen zu tun.
„Wie weich und köstlich du bist! Ich hab dich lieb“, sagte Barbara und hielt ihre Händchen in die strahlende Wärme.
„Gutes Kind!“ sagte der Sonnestrahl beifällig und streichelte sie liebkosend über Bäckchen und Haar. „Magst du das gern?“ fragte er, als wollte er gelobt werden.
„Köö-stlich!“ sagte Barbara und seufzte glücklich auf.

Sonntag, 24. Juli 2011

Anna Gavalda – Zusammen ist man weniger allein

Paulette Lestafier war nicht so verrückt, wie die Leute behaupteten. Natürlich wusste sie, wann welcher Tag war, sie hatte ja sonst nichts zu tun, als die Tage zu zählen, auf sie zu warten und wieder zu vergessen. Sie wusste sehr wohl, dass heute Mittwoch war. Außerdem war sie fertig! Hatte ihren Mantel übergezogen, ihren Korb gegriffen und ihre Rabattmärkchen zusammengesucht. Sie hatte sogar schon von weitem das Auto der Yvonne gehört. Aber dann stand die Katze vor der Tür, hatte Hunger, und als sie sich bückte, um ihr den Napf hinzustellen, war sie gestürtzt und mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe aufgeschlagen.

Paulette Lestafier fiel öfter hin, aber das war ihr Geheimnis. Das durfte sie nicht erzählen, niemandem.
„Niemandem, hörst du?“ schärfte sie sich ein. „Weder Yvonne noch dem Arzt und schon gar nicht dem Jungen...“

Sie musste langsam wieder aufstehen, warten, bis die Gegenstände alle wieder normal aussahen, Jod auftragen und ihre verfluchten blauen Flecken abdecken.

Die baluen Flecken der Paulette waren nie blau. Sie waren gelb, grün oder hellviolett und lange sichtbar. Viel zu lange. Mehrere Monate bisweilen. Es war schwer, sie zu verstecken. Die Leute fragten sie, warum sie immer wie im tiefsten Winter herumlief, warum sie Strümpfe trug und nie die Strickjacke auszog.

Vor allem der Kleine ging ihr damit auf die Nerven:
„He, Omi? Was soll das? Zieh den Plunder aus, du gehst ja ein vor Hitze!“

Nein, Paulette Lestafier war überhaupt nicht verrückt. Sie wusste, dass ihr die riesigen blauen Flecken, die nicht mehr weggingen, einmal viel Ärger bereiten würden.
Sie wusste, wie alte unnütze Frauen wie sie endeten. Die die Quecke im Gemüsegarten wuchern ließen und sich an den Möbeln festhielten, um nicht zu fallen. Die Alten, die den Faden nicht mehr durch das Nadelöhr bekamen und nicht mehr wussten, wie man den Fernseher lauter stellt. Die alle Knöpfe der Fernbedienung ausprobierten und am Ende heulend vor Wut den Stecker zogen.
Winzige bittere Tränen.
Mit dem Kopf in den Händen vor einem stummen Fernseher.

Und dann? Nichts mehr? Keine Geräusche mehr in diesem Haus? Keine Stimmen? Nie mehr? Weil man angeblich die Farbe der Knöpfe vergessen hat? Dabei hat er dir farbige Etiketten aufgeklebt, der Kleine, er hat dir Etiketten aufgeklebt! Eins für die Programme, eins für die Lautstärke und eins für den Ausknopf! Komm schon, Paulette! Hör auf, so zu heulen, und sieh dir die Etiketten an!

Dienstag, 19. Juli 2011

Anne Frank – Tagebuch

Montag, 19. Juli 1943

Liebe Kitty!
Am Sonntag ist Amsterdam-Nord sehr schwer bombardiert worden. Die Verwüstung muss entsetzlich sein, ganze Straßen liegen in Schutt, und es wird noch lange dauern, bis alle Verschütteten ausgegraben sind. Bis jetzt gibt es 200 Tote und unzählige Verwundete, die Krankenhäuser sind übervoll. Man hört von Kindern, die verloren in den schwelenden Ruinen nach ihren toten Eltern suchen. Es überläuft mich immer noch kalt, wenn ich an das dumpfe, dröhnende Grollen in der Ferne denke, das für uns das Zeichen der nahenden Vernichtung war.

Freitag, 15. Juli 2011

Katinka Buddenkotte – Mit leerer Bluse spricht man nicht

Eines Tages entdeckten die Götter des Olymps ihre soziale Ader. Nachdem sie sich über Jahrhunderte an Nektar und Ambrosia gelabt und sich in ausschweifenden Orgien mit der menschlichen Rasse gepaart hatten, überkam Zeus plötzlich eine Art Altersanstand. Er sprach: „Schickt mir den Knaben, den Adonis in einer schwachen Minute mit einer hysterischen Wüstenrennmaus zeugte, auf dass ich ihm eine Aufgabe gebe, wie nur ein Halbtitan sie zu erfüllen vermag!“
Der blonde Jüngling wurde gebracht, und der Göttervater merkte an dessen Gebaren und Redefluss schnell, dass die Rennmaus-Gene sich als dominant erwiesen hatten. So verkündete er denn flink und direkt: „Knabe, Göttersohn, Halbmensch, halte eine Minute inne und höre, was ich zu sagen habe. Auf der Erde, im kalten Norden, wohnt eine Seele, der fehlt, was du im Überfluss hast: Motivation. Geh zu ihr und tritt ihr in den Hintern, auf dass sie endlich mal loslege. Wie du das machst, ist uns gleich, aber segle schnell, denn: Hier oben machst du uns alle wahnsinnig!“
So trat Vasili in mein Leben. Er spürte mich in meinem Versteck, einem Call-Center in Berlin-Schöneberg, auf und verlor, wie befohlen, keine Zeit. Er wurde mein bester Freund und lehrte mich im Schnelldurchlauf, was es heißt, einen Griechen zum Freund zu haben.
Vasili nahm mich auf eine Odyssee nach der anderen mit. Er, aus dem Volke der Reeder, war der Kapitän, ich das Schlachtschiff. Seit ich Vasili kenne, bin ich nie mehr sang- und klanglos, sondern immer nur im ganz großen Stil untergegangen.

Freitag, 8. Juli 2011

Selma Lagerlöf – Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen

Es war wunderschönes Wetter, rings um ihn her murmelte und knospte und zwitscherte es. Aber ihm war das Herz schwer. Nie wieder würde er sich über etwas freuen können. Er meinte, den Himmel noch nie so dunkelblau gesehen zu haben wie an diesem Tage. Zugvögel kamen dahergeflogen. Sie kamen vom Auslande, waren über die Ostsee gerade auf Smygehuk zugesteuert und waren jetzt auf dem Wege nach Norden. Es waren Vögel von den verschiedensten Arten; aber er kannte nur die Wildgänse, die in zwei langen, keilförmigen Reihen flogen.
Schon mehrere Scharen Wildgänse waren so vorübergeflogen. Sie flogen hoch droben, aber er hörte doch, wie sie riefen: „Jetzt gehts auf die hohen Berge! Jetzt gehts auf die hohen Berge!“
Sobald die Wildgänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hofe umherliefen, senkten sie sich herab und riefen: „Kommt mit, kommt mit! Jetzt gehts auf die hohen Berge!“
Die zahmen Gänse reckten unwillkürlich die Hälse und horchten, antworteten dann aber verständig: „Es geht uns hier ganz gut! Es geht uns hier ganz gut!“
Es war, wie gesagt, ein überaus schöner Tag, und die Luft war so frisch und leicht, daß es ein Vergnügen sein mußte, darin zu fliegen. Und mit jeder neuen Schar Wildgänse, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse aufgeregter. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie große Lust, mitzufliegen. Aber jedesmal sagte eine alte Gänsemutter: „Seid nicht verrückt, Kinder, das hieße so viel als hungern und frieren.“
Bei einem jungen Gänserich hatten die Zurufe ein wahres Reisefieber erweckt. „Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit!“ rief er.
Jetzt kam eine neue Schar und rief wie die andern. Da schrie der junge Gänserich: „Wartet, wartet, ich komme mit!“ Er breitete seine Flügel aus und hob sich empor. Aber er war des Fliegens zu ungewohnt und fiel wieder auf den Boden zurück.
Die Wildgänse mußten jedenfalls seinen Ruf gehört haben. Sie wendeten sich um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er mitkäme.
„Wartet! Wartet!“ rief er und machte einen neuen Versuch.
All das hörte der Junge auf dem Mäuerchen. „Das wäre sehr schade, wenn der große Gänserich fortginge,“ dachte er; „Vater und Mutter würden sich darüber grämen, wenn er bei ihrer Rückkehr nicht mehr da wäre.“
Während er dies dachte, vergaß er wieder ganz, daß er klein und ohnmächtig war. Er sprang von dem Mäuerchen hinunter, lief mitten in die Gänseschar hinein und umschlang den Gänserich mit seinen Armen. „Das wirst du schön bleiben lassen, von hier wegzufliegen, hörst du!“ rief er.
Aber gerade in diesem Augenblick hatte der Gänserich herausgefunden, wie er es machen müsse, um vom Boden fortzukommen. In seinem Eifer nahm er sich nicht die Zeit, den Jungen abzuschütteln; dieser mußte mit in die Luft hinauf.
Es ging so schnell aufwärts, daß es dem Jungen schwindlig wurde. Ehe er sich klar machen konnte, daß er den Hals des Gänserichs loslassen müßte, war er schon so hoch droben, daß er sich totgefallen hätte, wenn er jetzt hinuntergestürzt wäre.
Das einzige, was er unternehmen konnte, um in eine etwas bequemere Lage zu kommen, war ein Versuch, auf den Rücken des Gänserichs zu klettern. Und er kletterte wirklich hinauf, wenn auch mit großer Mühe. Aber es war gar nicht leicht, sich auf dem glatten Rücken zwischen den beiden schwingenden Flügeln festzuhalten. Er mußte mit beiden Händen tief in die Federn und den Flaum hineingreifen, um nicht hintüber zu fallen.



Donnerstag, 7. Juli 2011

Ray Bradbury – Fahrenheit 451

Es war eine Lust, Feuer zu legen.
Es war eine eigene Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das gelbe Stahlrohr in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosien in die Welt hinaus spie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände waren die eines erstaunlichen Dirigenten, der eine Synphonie des Sengens und Brennens aufführte, um die kläglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszutilgen. Auf dem Kopf den Helm mit dem Zeichen 451, in den Augen einen flammenden Widerschein dessen, was nun kommen sollte, knipste er das Feuerzeug an, und das Haus flog auf in eine gierige Lohe, die sich rot und gelb und schwarz in den Abendhimmel hineinfraß. Er selber war umschwirrt wie von einem Schwarm von Leuchtkäfern. Ein altes Witzwort kam ihm in den Sinn, und er hätte am liebsten eine aufgespießte Wurst in die Feuersbrunst hineingehalten, während die Bücher mit dem Flügelschlag weißer Tauben vor dem Haus den Flammentod starben. Während die Bücher in Funkenwirbel aufsprühten und von einem brandgeschwärzten Wind verweht wurden.


Sonntag, 3. Juli 2011

Robert Louis Stevenson – Die Schatzinsel

An den zögernden Käufer

Wenn Seemannsgarn zu guten Seemannsweisen
von Glut und Kälte, Stürmen und Passaten,
von Schiffen, Inseln, Abenteuerreisen,
von Ausgesetzten, Schätzen und Piraten,
kurz, all der Zauber alter Heldentaten,
wie er von je mein ganzes Herz bezwungen,
berichtet nach der Weise der Janmaaten,
auch euch noch reizt, ihr neunmalklugen Jungen:

so lauscht mir denn! Doch war ich zu vermessen,
will keine Sehnsucht mehr sich offenbaren,
seid ihr zu nüchtern, habt wohl gar vergessen,
wer Kingston, Ballantyne und Cooper waren,
für die ich einst geschwärmt in jungen Jahren:
so sei’s. Dann will ich schweigend und bezwungen
mit meinen Helden in die Grube fahren,
die sie und ihre Werke längst verschlungen.