Ein Buch, wenn es so zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem was zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an; wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefern steckt, den beißt’s auch nicht. Wilhelm Busch.
Dienstag, 13. November 2012
Erin Morgenstern – Der Nachtzirkus
Die Liebenden.
Zwei Gestalten stehen vollkommen reglos auf einem
Sockel inmitten der Menschenmenge, so hoch oben, dass
sie von allen Seiten deutlich zu sehen sind.
Die Frau trägt ein Kleid, das ein Hochzeitskleid für eine
Ballerina sein könnte, weiß, duftig und mit schwarzen
Bändern besetzt, die in der Nachtluft flattern. Ihre Beine
stecken in getreiften Strümpfen, ihre Füße in hohen
schwarzen Stiefeletten. Ihr dunkles Haar ist lose hoch-
gesteckt und mit weißen Federn geschmückt.
Ihr Gefährte ist ein gutaussehender Mann, etwas größer
als sie, in einem tadellos sitzenden schwarzen Nadel-
streifenanzug. Sein Hemd ist strahlend weiß, die Krawatte
schwarz und perfekt gebunden. Auf seinem Kopf sitzt
ein schwarzer Bowlerhut.
Sie stehen engumschlungen da, ohne sich zu berühren,
die Köpfe einander zugeneigt. Ihre Lippen sind im
Augenblick vor (oder nach) dem Kuss erstarrt.
Du betrachtest sie eine Weile, doch sie bewegen sich
nicht. Weder Fingerspitzen noch Augenwimpern. Nichts
weist darauf hin, dass sie auch nur atmen.
Viele Besucher sehen sie nur kurz an und gehen dann
weiter, doch je länger du sie beobachtest, umso deutlicher
erkennst du minimale Veränderungen in der Biegung
einer Hand, die neben einem Arm schwebt, im Winkel
eines perfekt ausbalancierten Beins. Jeder bewegt sich auf
den anderen zu.
Aber sie berühren sich nicht.
Mittwoch, 31. Oktober 2012
Eric-Emmanuel Schmitt – Die Fälschung
Als Georges ihr mitteilte, er wolle sie verlassen, brauchte Aimée einige Minuten, um zu begreifen, dass es sich weder um einen bösen Traum, noch um einen Scherz handelte. Sagte wirklich er das? Meinte er wirklich sie? Als Aimée klar wurde, dass tatsächlich er ihr diesen schweren Schlag versetzte, überprüfte sie, ob sie noch am Leben war. Für diese Diagnose brauchte sie allerdings etwas länger: Das Herz war ihr stehengeblieben, das Blut in den Adern gestockt, eine marmorkalte Stille hatte sie versteinert, daran gehindert, auch nur mit der Wimper zu zucken... Doch sie hörte Georges noch immer – „du musst verstehen, Liebling, es geht so nicht weiter, alles hat ein Ende“ –, sah sein Hemd unter den Achseln schweißnass werden, nahm diesen aufwühlenden Geruch wahr: nach Mann, nach Seife und mit Lavendel aufgefrischter Wäsche... Erstaunt, fast enttäuscht stellte sie fest, dass sie noch am Leben war.
Was Georges da so sanft und freundlich bemüht wieder und wieder sagte, war ein einziger Widerspruch in sich: Er erklärte, von ihr fortgehen zu wollen, und behauptete, dies sei nicht weiter schlimm.
„Wir haben eine gute Zeit gehabt zusammen. Dir verdanke ich meine glücklichsten Momente. Und ich weiß, mein letzter Gedanke wird einzig dir gelten. Doch ich habe nun einmal Familie. Hättest du mich etwa geliebt, wenn ich einer von diesen Männern gewesen wäre, die sich einfach davonschleichen, einer, der sich seinen Verpflichtungen entzieht, Frau, Heim, Kinder und Enkel auf ein Fingerschnalzen hin vernachlässigt?“
Was Georges da so sanft und freundlich bemüht wieder und wieder sagte, war ein einziger Widerspruch in sich: Er erklärte, von ihr fortgehen zu wollen, und behauptete, dies sei nicht weiter schlimm.
„Wir haben eine gute Zeit gehabt zusammen. Dir verdanke ich meine glücklichsten Momente. Und ich weiß, mein letzter Gedanke wird einzig dir gelten. Doch ich habe nun einmal Familie. Hättest du mich etwa geliebt, wenn ich einer von diesen Männern gewesen wäre, die sich einfach davonschleichen, einer, der sich seinen Verpflichtungen entzieht, Frau, Heim, Kinder und Enkel auf ein Fingerschnalzen hin vernachlässigt?“
Mittwoch, 10. Oktober 2012
Haruki Murakami – Die Bäckereiüberfälle
Mit einer Bedächtigkeit, die uns zur Weißglut trieb, und einer Sorgfalt, als ob sie sich für eine Kommode und einen Frisierspiegel entschiede, hob Tantchen einen Krapfen und ein Melonenteilchen auf ihr Tablett. Allerdings nicht, um sie gleich zu erwerben. Der Krapfen und das Melonenteilchen waren für sie nicht mehr als eine These. Beziehungsweise weit und fern wie der hohe Norden. Tantchen brauchte noch ein Weilchen, um sich daran zu gewöhnen.
Mit der verinnenden Zeit verlor zuerst das Melonenteilchen seinen Status als These. Warum, schüttelte Tantchen den Kopf, habe ich eigentlich ein Melonenteilchen gewählt? Das kann nicht zur Debatte stehen. Melonenteilchen sind doch viel zu süß.
Sie legte es wieder zurück und schob nach kurzen Nachdenken zwei Croissants auf ihr Tablett. Die Geburt einer neuen These. Der Eisberg hatte sich eine Spur bewegt, und zwischen den Wolken lugten gar die Strahlen der Frühlingssonne hervor.
„Das dauert“, flüsterte mein Kumpel. „Legen wir die Alte gleich mit um!“
„Nur die Ruhe“, bremste ich ihn.
Den Bäckermeister focht das alles nicht an, er lauschte seinem Radiorekorder, aus dem Wagner erscholl. Ob es sich für ein KP-Mitglied geziemt, Wagner zu hören, weiß ich nicht.
Tantchen schaute unverwandt auf ihre Croissants und den Krapfen. Etwas stimmte nicht. War unnatürlich. Croissants und Krapfen durften offenbar auf gar keinen Fall Seite an Seite beieinanderliegen. Sie schien zu spüren, dass hier, ja, unverträgliche Ideen miteinander stritten. Das beladene Tablett schwankte in ihrer Hand und klickte wie ein defekter Kühlschrankthermostat. Natürlich schwankte und klickte das Tablett nicht wirklich. Es schwankte gewissermaßen – metaphorisch. Klick.
„Ich leg sie um!“, sagte mein Kumpel. Die Mischung aus Hunger und Wagner und Tantchen hatte seine nervöse Spannung verletzlich gemacht, wie eine Pfirsichhaut. Ich schüttelte stumm den Kopf.
Derweil ließ Tantchen das Tablett in ihrer Hand wieder eine dostojewskische Hölle durchwandern. Zunächst trat der Krapfen auf die Tribüne und hielt eine Rede an das römische Volk, die man durchaus als bewegend bezeichnen konnte. Herrliche Phraseologie, perfekte Rhetorik, tragender Bariton... alle klatschten, Applaus, Applaus. Danach gingen die Croissants aufs Podium und redeten irgendeinen Unsinn bezüglich Verkehrsampeln. Linksabbieger fahren bei grünem Licht für den Geradeausverkehr langsam vor und biegen erst ab, nachdem sie sich vergewissert haben, dass kein Gegenverkehr herrscht. Etwas in der Art. Das römische Volk wusste nicht recht, wovon die Rede war, klatschte aber, denn es hörte sich kompliziert an: Applaus, Applaus. Der Beifall für die Croissants war ein bisschen lauter. Und der Krapfen wurde wieder zurückgelegt.
Auf Tantchens Tablett herrschte nun Perfektion von extremer Simplizität: zwei Croissants.
Und dann verließ Tantchen die Bäckerei.
Mit der verinnenden Zeit verlor zuerst das Melonenteilchen seinen Status als These. Warum, schüttelte Tantchen den Kopf, habe ich eigentlich ein Melonenteilchen gewählt? Das kann nicht zur Debatte stehen. Melonenteilchen sind doch viel zu süß.
Sie legte es wieder zurück und schob nach kurzen Nachdenken zwei Croissants auf ihr Tablett. Die Geburt einer neuen These. Der Eisberg hatte sich eine Spur bewegt, und zwischen den Wolken lugten gar die Strahlen der Frühlingssonne hervor.
„Das dauert“, flüsterte mein Kumpel. „Legen wir die Alte gleich mit um!“
„Nur die Ruhe“, bremste ich ihn.
Den Bäckermeister focht das alles nicht an, er lauschte seinem Radiorekorder, aus dem Wagner erscholl. Ob es sich für ein KP-Mitglied geziemt, Wagner zu hören, weiß ich nicht.
Tantchen schaute unverwandt auf ihre Croissants und den Krapfen. Etwas stimmte nicht. War unnatürlich. Croissants und Krapfen durften offenbar auf gar keinen Fall Seite an Seite beieinanderliegen. Sie schien zu spüren, dass hier, ja, unverträgliche Ideen miteinander stritten. Das beladene Tablett schwankte in ihrer Hand und klickte wie ein defekter Kühlschrankthermostat. Natürlich schwankte und klickte das Tablett nicht wirklich. Es schwankte gewissermaßen – metaphorisch. Klick.
„Ich leg sie um!“, sagte mein Kumpel. Die Mischung aus Hunger und Wagner und Tantchen hatte seine nervöse Spannung verletzlich gemacht, wie eine Pfirsichhaut. Ich schüttelte stumm den Kopf.
Derweil ließ Tantchen das Tablett in ihrer Hand wieder eine dostojewskische Hölle durchwandern. Zunächst trat der Krapfen auf die Tribüne und hielt eine Rede an das römische Volk, die man durchaus als bewegend bezeichnen konnte. Herrliche Phraseologie, perfekte Rhetorik, tragender Bariton... alle klatschten, Applaus, Applaus. Danach gingen die Croissants aufs Podium und redeten irgendeinen Unsinn bezüglich Verkehrsampeln. Linksabbieger fahren bei grünem Licht für den Geradeausverkehr langsam vor und biegen erst ab, nachdem sie sich vergewissert haben, dass kein Gegenverkehr herrscht. Etwas in der Art. Das römische Volk wusste nicht recht, wovon die Rede war, klatschte aber, denn es hörte sich kompliziert an: Applaus, Applaus. Der Beifall für die Croissants war ein bisschen lauter. Und der Krapfen wurde wieder zurückgelegt.
Auf Tantchens Tablett herrschte nun Perfektion von extremer Simplizität: zwei Croissants.
Und dann verließ Tantchen die Bäckerei.
Sonntag, 26. August 2012
J.R.R. Tolkien – Der Hobbit
Er konnte sich nicht vorstellen, was er jetzt tun sollte, und ebensowenig, was passiert war, warum man ihn zurückgelassen hatte oder warum ihn, wenn man ihn schon zurückgelassen hatte, die Orks nicht erwischt hatten; und auch, warum ihm der Kopf so weh tat, wusste er nicht. Die Wahrheit war, daß er längere Zeit still in einer sehr dunklen Ecke gelegen hatte: aus den Augen, aus dem Sinn.
Nach einer Weile tastete er nach seiner Pfeife. Sie war noch heil: schon mal etwas! Er tastete nach dem Tabaksbeutel, und es war noch genug drin: immer besser! Dann suchte er nach den Streichhölzern und fand keines; damit wurden alle seine Hoffnungen zunichte. Aber das war sein Glück, wie er bereitwillig zugab, als er wieder zur Besinnung kam, denn wer weiß, was ihm aus den dunklen Löchern an diesem unfreundlichen Ort womöglich zu Leibe grückt wäre, hätte er ein Streichholz angezündet und Tabakgeruch verbreitet! Trotzdem, für den Augenblick war es niederschmetternd. Aber als er alle seine Taschen durchwühlte und überall nach den Streichhölzern tastete, war seine Hand auch auf das Heft seines kleinen Schwertes gestoßen, das er von den Trollen mitgenommen und inzwischen so gut wie vergessen hatte. Zum Glück hatten auch die Orks es nicht bemerkt, denn er trug es unter dem Hosenbund.
Jetzt zog er es heraus. Es schimmerte fahl und schwach vor seinen Augen. „Also ist das auch eine Elbenklinge“, dachte er; „und die Orks sind nicht allzu nah, aber auch nicht allzu weit weg.“
Aber irgendwie beruhigte es ihn. Es war doch etwas Erhebendes, eine Waffe zu tragen, die in Gondolin für die vielbesungenen Orkkriege geschmiedet worden war; außerdem hatte er bemerkt, daß solche Waffen den Orks, die sich ihnen plötzlich gegenübersahen, einen starken Eindruck machten.
„Zurückgehen?“ dachte er. „Nützt gar nichts. Zur Seite? Unmöglich. Vorwärts? Das einzig Mögliche. Also los!“ Er stand auf und trabte vorwärts, sein kleines Schwert vor sich haltend und mit der einen Hand die Wand entlangstreifend, und sein Herz klopfte gewaltig.
Nach einer Weile tastete er nach seiner Pfeife. Sie war noch heil: schon mal etwas! Er tastete nach dem Tabaksbeutel, und es war noch genug drin: immer besser! Dann suchte er nach den Streichhölzern und fand keines; damit wurden alle seine Hoffnungen zunichte. Aber das war sein Glück, wie er bereitwillig zugab, als er wieder zur Besinnung kam, denn wer weiß, was ihm aus den dunklen Löchern an diesem unfreundlichen Ort womöglich zu Leibe grückt wäre, hätte er ein Streichholz angezündet und Tabakgeruch verbreitet! Trotzdem, für den Augenblick war es niederschmetternd. Aber als er alle seine Taschen durchwühlte und überall nach den Streichhölzern tastete, war seine Hand auch auf das Heft seines kleinen Schwertes gestoßen, das er von den Trollen mitgenommen und inzwischen so gut wie vergessen hatte. Zum Glück hatten auch die Orks es nicht bemerkt, denn er trug es unter dem Hosenbund.
Jetzt zog er es heraus. Es schimmerte fahl und schwach vor seinen Augen. „Also ist das auch eine Elbenklinge“, dachte er; „und die Orks sind nicht allzu nah, aber auch nicht allzu weit weg.“
Aber irgendwie beruhigte es ihn. Es war doch etwas Erhebendes, eine Waffe zu tragen, die in Gondolin für die vielbesungenen Orkkriege geschmiedet worden war; außerdem hatte er bemerkt, daß solche Waffen den Orks, die sich ihnen plötzlich gegenübersahen, einen starken Eindruck machten.
„Zurückgehen?“ dachte er. „Nützt gar nichts. Zur Seite? Unmöglich. Vorwärts? Das einzig Mögliche. Also los!“ Er stand auf und trabte vorwärts, sein kleines Schwert vor sich haltend und mit der einen Hand die Wand entlangstreifend, und sein Herz klopfte gewaltig.
Mittwoch, 15. August 2012
G(e)org(e)s P(e)r(e)c – Anton Voyls Fortgang
Anton Voyl hat Schlaf nötig, doch Anton kommt nicht zum Schlaf und macht Licht. Auf Antons Uhr ists Null Uhr zwanzig. Anton ächzt laut, wälzt sich mal so rum und mal so rum – Antons Schlafcouch ist hart – stützt sich dann auf, griff sich ’n Roman, schlug ihn auf und las; doch lang ging das nicht gut, da Anton vom Inhalt nichts, absolut nichts schnallt und ständig auf ’n Wort stößt, wovon ihm Sinn und Signifikation total unklar ist.
Also klappt Anton das Buch zu und ging ins Bad; dort macht Anton das Handtuch nass und fährt sich damit gründlich durchs Antlitz und auch Antons Hals kommt dran.
Antons Puls schlug zu stark. Ihm war warm. Anton macht das Wandloch mit Glas davor auf und schaut durch Nacht und Wind zum Mond hinauf. Warm wars, doch nicht zu warm. Vom Vorort drang kaum hörbar Lärm zu ihm rauf. Vom Kirchturm schlugs – dumpf und matt – zwomal. Auf’m Kanal Saint Martin fuhr sanft das Sandschiff dahin und pfiff schrill.
Also klappt Anton das Buch zu und ging ins Bad; dort macht Anton das Handtuch nass und fährt sich damit gründlich durchs Antlitz und auch Antons Hals kommt dran.
Antons Puls schlug zu stark. Ihm war warm. Anton macht das Wandloch mit Glas davor auf und schaut durch Nacht und Wind zum Mond hinauf. Warm wars, doch nicht zu warm. Vom Vorort drang kaum hörbar Lärm zu ihm rauf. Vom Kirchturm schlugs – dumpf und matt – zwomal. Auf’m Kanal Saint Martin fuhr sanft das Sandschiff dahin und pfiff schrill.
Mittwoch, 25. Juli 2012
Jonathan Carroll – Das hölzerne Meer
Eines Tages kommt ein Kerl aufs Revier und führt einen Hund an der Leine, wie man ihn noch nie gesehen hat. Es ist eine Mischung, aber hauptsächlich ein Pittbull, mit braun-schwarzen Wirbeln gezeichnet, die ihn aussehen lassen, wie ein Marmorkuchen. Aber das ist auch schon alles, was an ihm normal ist, denn der Hund hat nur dreieinhalb Beine, ihm fehlt ein Auge, und er atmet komisch. Irgendwie aus dem Mundwinkel, aber genau kann man es nicht sagen. So wie die Luft herauskommt, klingt es, als ob er „Michelle“ vor sich hinpfeift. Auf dem Kopf hat er zwei wulstige Narben. Er ist so verbaut, dass wir ihn alle anstarren, als wäre er soeben mit der Concorde aus der Hölle gekommen.
So beschissen er aussah, hatte der Hund aber doch ein sehr hübsches rotes Lederhalsband. Daran hing ein kleines, flaches Silberherz, in das der Name „Old Vertue“ eingraviert war. Der Alte Tugendsam. Und weiter nichts: kein Besitzer, keine Adresse, keine Telefonnummer. Nur Old Vertue. Und er ist erschöpft. Mitten zwischen allen Leuten dort ließ er sich auf den Boden fallen und fing an zu schnarchen. Der Typ, der ihn gebracht hatte, sagte, er hätte den Hund schlafend auf dem Parkplatz vom Grand Union Supermarket gefunden. Er hätte keine Ahnung, was zum Teufel er mit ihm anfangen sollte, aber der Hund würde bestimmt überfahren werden, wenn er da sein Nickerchen machte, und deshalb hätte er ihn hergebracht.
Die anderen meinten, wir sollten den Hund ins nächste Tierheim schaffen und basta. Aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ich machte ihm ein Bett in meinem Büro, kaufte Hundefutter und zwei orangefarbene Näpfe. Er schlief zwei Tage ununterbrochen. Als er schließlich aufwachte, lag er in seinem Bett und starrte mich mit düsteren Augen an. Besser gesagt mit einem düsteren Auge. Als jemand auf dem Revier fragte, weshalb ich ihn behielte, sagte ich, dieser Hund hat alles gesehen. Ich bin der Polizeichef, und deshalb hat keiner protestiert.
So beschissen er aussah, hatte der Hund aber doch ein sehr hübsches rotes Lederhalsband. Daran hing ein kleines, flaches Silberherz, in das der Name „Old Vertue“ eingraviert war. Der Alte Tugendsam. Und weiter nichts: kein Besitzer, keine Adresse, keine Telefonnummer. Nur Old Vertue. Und er ist erschöpft. Mitten zwischen allen Leuten dort ließ er sich auf den Boden fallen und fing an zu schnarchen. Der Typ, der ihn gebracht hatte, sagte, er hätte den Hund schlafend auf dem Parkplatz vom Grand Union Supermarket gefunden. Er hätte keine Ahnung, was zum Teufel er mit ihm anfangen sollte, aber der Hund würde bestimmt überfahren werden, wenn er da sein Nickerchen machte, und deshalb hätte er ihn hergebracht.
Die anderen meinten, wir sollten den Hund ins nächste Tierheim schaffen und basta. Aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ich machte ihm ein Bett in meinem Büro, kaufte Hundefutter und zwei orangefarbene Näpfe. Er schlief zwei Tage ununterbrochen. Als er schließlich aufwachte, lag er in seinem Bett und starrte mich mit düsteren Augen an. Besser gesagt mit einem düsteren Auge. Als jemand auf dem Revier fragte, weshalb ich ihn behielte, sagte ich, dieser Hund hat alles gesehen. Ich bin der Polizeichef, und deshalb hat keiner protestiert.
Dienstag, 17. Juli 2012
Mathias Malzieu – Die Mechanik des Herzens
Edinburgh und seine steilen Straßen machen eine Metamorphose durch. Die Springbrunnen gefrieren zu Blumensträußen aus Eis. Der Fluss, der seine Rolle als Fluss sonst sehr ernst nimmt, verkleidet sich als Puderzuckersee, der sich bis zum Meer erstreckt, und das Tosen der Brandung klingt wie klirrende Glasscherben. Der Raureif zaubert glitzernde Pailletten auf das Fell der Katzen, und die Bäume erinnern an dickleibige Feen in weißen Nachthemden, die ihre Äste recken und strecken, den Mond angähnen und seelenruhig zusehen, wie die Kutschen über das vereiste Straßenpflaster schlittern. Es ist so bitterkalt, dass Vögel im Flug erfrieren und tot vom Himmel fallen. Ihr Aufprall ist unheimlich sanft für ein Geräusch des Todes.
Es ist der kälteste Tag aller Zeiten. Heute ist der Tag, an dem ich geboren werde.
Schauplatz ist ein altes Haus, das auf dem höchsten Hügel von Edinburgh balanciert. Auf dem Gipfel dieses Vulkans aus blauem Quarz soll der gute alte König Arthur begraben sein. Daher auch der Name: Arthurs’s Seat. Das Dach des Hauses ist spitz und unglaublich hoch. Der Schornstein ist geformt wie ein Metzgermesser und ragt zu den Sternen empor. An ihm schärft der Mond nachts seine Sichel. Hier oben ist niemand, nur Bäume.
Das Haus ist ganz aus Holz, als wäre es aus einer gewaltigen Tanne geschnitzt: grobe Balken, wohin man sieht, Fenster vom Eisenbahnfriedhof, ein aus einem Baumstumpf geschnitzter Tisch, und überall verbreiten selbst gestrickte, mit totem Laub gefüllte Wollkissen Nestwärme. In diesem Haus finden unzählige heimliche Geburten statt.
Hier lebt die wunderliche Doktor Madeleine, eine Hebamme, die bei den Einwohnern der Stadt als verrückt gilt. Für eine Dame ihres Alters ist sie erstaunlich hübsch. In ihren Augen glimmt noch immer ein Funke, nur ihr Lächeln zuckt, als hätte es einen Wackelkontakt. [...]
Während meine blutjunge Mutter in den Wehen liegt, sieht sie aus dem Fenster und beobachtet geistesabwesend, wie draußen Flocken und Vögel lautlos zu Boden fallen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, dass bloß so tut, als sei es schwanger. Aber sie ist melancholisch, denn sie weiß, dass sie mich nicht behalten wird, und wagt es kaum, auf ihren prallen Bauch hinabzusehen. Als ich immer eiliger hinausdränge, schließt sie langsam die Augen, und ihre Haut verschmilzt mit dem Laken, als sauge das Bett sie auf.
Auf ihrem Weg den Berg hinauf weinte sie. Ihre gefrorenen Tränen prallten auf den Boden wie die Perlen einer zerrissenen Kette. Bei jedem Schritt breitete sich vor ihren Füßen ein Teppich aus glitzernden Murmeln aus. Sie geriet ins Schlittern, lief aber immer weiter. Ihre Schritte wurden schneller und schneller, ihre Füße verhedderten sich, ihre Knöchel knickten ein, uns schließlich fiel sie mit voller Wucht auf den Bauch. Drinnen machte ich ein schepperndes Geräusch.
Doktor Madeleine ist das Erste, was ich von der Welt sehe. Ihre Finger packen meinen kleinen Schädel, der die Form einer Olive hat, ein Rugbyball im Miniaturformat. Dann schmiegen wir uns gemütlich aneinander.
Meine Mutter wendet den Kopf ab. Ohnehin wollen ihre Lider nicht mehr richtig funktionieren.
„Mach die Augen auf! Sieh dir die winzige Flocke an, die du fabriziert hast!“
Madeleine sagt, ich sähe aus wie ein blasser Vogel mit großen Füßen. Meine Mutter antwortet, sie schaue nicht grundlos weg und könne auf die Beschreibung gut verzichten.
„Ich will ihn nicht sehen und nichts über ihn wissen!“
Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.
„Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.“
„Glauben Sie etwa, meins nicht?“
„Nein, sein Herz ist wirklich gefroren!“
Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.
Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist. [...]
Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt. [...]
Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz. [...]
Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. [...]
Plötzlich erschallt ein „Kuckuck“ aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.
Es ist der kälteste Tag aller Zeiten. Heute ist der Tag, an dem ich geboren werde.
Schauplatz ist ein altes Haus, das auf dem höchsten Hügel von Edinburgh balanciert. Auf dem Gipfel dieses Vulkans aus blauem Quarz soll der gute alte König Arthur begraben sein. Daher auch der Name: Arthurs’s Seat. Das Dach des Hauses ist spitz und unglaublich hoch. Der Schornstein ist geformt wie ein Metzgermesser und ragt zu den Sternen empor. An ihm schärft der Mond nachts seine Sichel. Hier oben ist niemand, nur Bäume.
Das Haus ist ganz aus Holz, als wäre es aus einer gewaltigen Tanne geschnitzt: grobe Balken, wohin man sieht, Fenster vom Eisenbahnfriedhof, ein aus einem Baumstumpf geschnitzter Tisch, und überall verbreiten selbst gestrickte, mit totem Laub gefüllte Wollkissen Nestwärme. In diesem Haus finden unzählige heimliche Geburten statt.
Hier lebt die wunderliche Doktor Madeleine, eine Hebamme, die bei den Einwohnern der Stadt als verrückt gilt. Für eine Dame ihres Alters ist sie erstaunlich hübsch. In ihren Augen glimmt noch immer ein Funke, nur ihr Lächeln zuckt, als hätte es einen Wackelkontakt. [...]
Während meine blutjunge Mutter in den Wehen liegt, sieht sie aus dem Fenster und beobachtet geistesabwesend, wie draußen Flocken und Vögel lautlos zu Boden fallen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, dass bloß so tut, als sei es schwanger. Aber sie ist melancholisch, denn sie weiß, dass sie mich nicht behalten wird, und wagt es kaum, auf ihren prallen Bauch hinabzusehen. Als ich immer eiliger hinausdränge, schließt sie langsam die Augen, und ihre Haut verschmilzt mit dem Laken, als sauge das Bett sie auf.
Auf ihrem Weg den Berg hinauf weinte sie. Ihre gefrorenen Tränen prallten auf den Boden wie die Perlen einer zerrissenen Kette. Bei jedem Schritt breitete sich vor ihren Füßen ein Teppich aus glitzernden Murmeln aus. Sie geriet ins Schlittern, lief aber immer weiter. Ihre Schritte wurden schneller und schneller, ihre Füße verhedderten sich, ihre Knöchel knickten ein, uns schließlich fiel sie mit voller Wucht auf den Bauch. Drinnen machte ich ein schepperndes Geräusch.
Doktor Madeleine ist das Erste, was ich von der Welt sehe. Ihre Finger packen meinen kleinen Schädel, der die Form einer Olive hat, ein Rugbyball im Miniaturformat. Dann schmiegen wir uns gemütlich aneinander.
Meine Mutter wendet den Kopf ab. Ohnehin wollen ihre Lider nicht mehr richtig funktionieren.
„Mach die Augen auf! Sieh dir die winzige Flocke an, die du fabriziert hast!“
Madeleine sagt, ich sähe aus wie ein blasser Vogel mit großen Füßen. Meine Mutter antwortet, sie schaue nicht grundlos weg und könne auf die Beschreibung gut verzichten.
„Ich will ihn nicht sehen und nichts über ihn wissen!“
Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.
„Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.“
„Glauben Sie etwa, meins nicht?“
„Nein, sein Herz ist wirklich gefroren!“
Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.
Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist. [...]
Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt. [...]
Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz. [...]
Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. [...]
Plötzlich erschallt ein „Kuckuck“ aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.
Sonntag, 1. Juli 2012
J. M. Barrie – Peter Pan
Nachdem die Eltern Darling das Haus verlassen hatten, brannten die Nachtlichter bei den Betten der drei Kinder hell und klar. Plötzlich aber flackerte Wendys Licht und gähnte so sehr, dass die anderen davon angesteckt wurden, und bevor sie den Mund schließen konnten, gingen alle drei aus.
Dienstag, 19. Juni 2012
John Connolly – Das Buch der verlorenen Dinge
Der Mund des Schützen öffnete sich, und seine Lippen formten Worte, doch es kam kein Ton heraus. Seine Augen fixierten den Jungen. David sah, wie sie sich verengten, als verstünde der Schütze nicht, was gesagt wurde oder was mit ihm geschah, während er dort im Schnee kniete und die Blutlache um ihn herum immer größer wurde.
Dann weiteten sie sich langsam und brachen, als der Tod ihm die Erklärung gab.
Dann weiteten sie sich langsam und brachen, als der Tod ihm die Erklärung gab.
Sonntag, 17. Juni 2012
Eric Malpass – Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Morgendämmerung und ein Himmel wie kalter Haferbrei. In den Winkeln des Daches noch ein paar Flecken nassen Schnees.
In dem großen, weitläufigen Haus lag die Familie im sonntagmorgendlichen Winterschlaf, eingekuschelt gegen die Kälte und den kommenden Tag.
Aber Gaylord war gegen Kälte unempfindlich. Der junge Gaylord Pentecost war gegen die meisten Dinge unempfindlich. Gleich nach dem Aufwachen hopste er erst mal ein bisschen auf dem Bett herum. Als ihm das langweilig wurde, zog er die Schlafanzughose auf seine nichtvorhandene Taille herauf und machte sich auf eine Besuchstour durch das Haus.
Zuerst war Opa an der Reihe. In seinem Zimmer war es noch dunkel. Gaylord zog die Vorhänge auf.
Die Vorhänge hingen an Messingringen. Wenn andere sie zurückzogen, klapperten sie wie Kastagnetten. Wenn Gaylord sie zurückzog, klang es wie eine Maschinengewehrsalve.
Opa öffnete nicht einmal die Augen. „Verschwinde, zum Teufel noch einmal“, sagte er.
Opa wirkte unter der Bettdecke wie ein massiver, kleiner runder Berg. Gaylord nahm einen Anlauf und landete mitten auf dem Berg. „Ich bin ein Ritter“, schrie er. „Und du bist mein Schlachtross.“
„Ich bin kein Schlachtross“, sagte Opa. „Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben will. Herrgott noch mal.“
Neugierig berührte Gaylord mit dem Finger eins der faltigen Augenlider. Er schob das Lid nach oben und betrachtete nachdenklich das gelbe, unheilverkündende Auge. Er ließ das Lid wieder herunterklappen. „Soll ich dir eine Tasse Tee machen?“
„Wenn du recht lange dazu brauchst, ja“, sagte Opa. Gaylord kletterte von ihm herunter. „Geht wie der Blitz“, antwortete er vergnügt.
„Bitte, lass dir Zeit“, sagte Opa.
Gaylord spazierte weiter zu Großtante Marygold. „Willst du eine Tasse Tee haben?“ schrie er von der Tür her.
Aber Großtante Marygold, deren Hörapparat neben der Brille und den falschen Zähnen auf dem Nachttisch lag, verhielt sich mucksmäuschenstill und stellte wieder einmal fest, dass bei solchen Gelegenheiten ihre Taubheit kein Leiden war, sondern sich als Segen und himmlische Zuflucht entpuppte.
Gaylord begab sich zu Tante Rosie. Tante Rosies längliches, blasses Gesicht wirkte auf dem weißen Kissen nur wie ein gelblicher Fleck. Beim Anblick ihres Neffen wurde es keineswegs fröhlicher. „Was liest du denn da?“ fragte Gaylord.
„Ein Buch.“
„Wie heißt es?“
„Psychopathologie des Alltags“, sagte Tante Rosie. „Bist du jetzt klüger?“ fragte sie mürrisch.
Wie Kohlen in eine Schütte purzelten die Silben in Gaylords Gehirn und lagen dort in wildem Durcheinander. Er trat dicht an das Bett heran und spähte Tante Rosie über die Schulter.
„Sind Bilder drin?“
„Nein“, sagte Tante Rosie.
„Wovon handelt es denn?“
„Von Psychopathologie“, sagte Tante Rosie. „im täglichen Leben“, fügte sie belehrend hinzu.
Gaylord zog versuchsweise an ihrer Bettdecke. „Darf ich in dein Bett kommen?“
Mit Tante Rosie ging urplötzlich eine Veränderung vor sich. Wie eine in die Enge getriebene Katze krümmte sie sich zusammen. Ihre Lippen spannten sich über den Zähnen. Sie umklammerte ihr Buch wie ein Radfahrer die Lenkstange, wenn er ohne Bremse bergab rast. „Ausgerechnet in der einzigen Stunde am Tag, in der ich vor dieser verflixten, verrückten Familie Ruhe habe, musst du hier reinkommen! Raus jetzt und lass mich weiterlesen. Geh zu Becky. Sie hat bestimmt gern jemand bei sich im Bett, selbst dich.“ Vor Erregung zitternd, starrte sie in ihr Buch.
Gaylord betrachtete sie interessiert. Das hatte er schon oft bei ihr erlebt. Man unterhielt sich ganz normal mit Tante Rosie, und plötzlich tat sie, als wollte sie einen anspringen. Sehr interessant. Natürlich wusste er, woran das lag. Das hatte er von Opa gehört. Er kletterte auf das Fußende des Messingbetts. Es hatte wohl nicht viel Sinn, länger hierzubleiben. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
Tante Rosie gab keine Antwort. Gaylord nahm sich vor, Tante Becky zu besuchen.
Tante Becky war wie Erdbeeren mit Sahne, ganz Rüschen und Spitzen. Gaylord hatte Tante Becky gern. Er war so gut wie entschlossen, sie zu heiraten, wenn er erst einmal groß war. Jetzt zupfte er probeweise an ihrer Bettdecke. „Schlüpf rein“, sagte Tante Becky.
Er schlüpfte hinein. Tante Becky war warm und weich und roch gut. Gaylord war weder warm noch weich. Es ist, als habe man einen großen Fisch im Bett, dachte Becky. „Wo warst du denn schon überall?“ fragte sie.
„Bei Tante Rosie.“
„Und was hat sie getan?“
„Gelesen.“
Tante Becky schien amüsiert. „Was denn?“
Gaylord dachte an den Haufen Silben. „Psychologo... irgendwas mit Lokomotive“, sagte er auf gut Glück.
„Großer Gott.“
„Und dann wurde sie ganz komisch.“
„Komisch?“
„Ganz verdreht. Ich glaube, sie wollte mich nicht bei sich haben.“
„Arme Rosie“, murmelte Becky faul und zufrieden.
Jetzt fand Gaylord es an der Zeit, Opas Diagnose anzubringen. „Sind ihre verflixten Nerven“, sagte er.
Tante Becky warf den Kopf zurück und lachte. Zwischen ihren weißen Zähnen konnte Gaylord die kleine rosa Zunge sehen. Er streckte einen Finger vor und berührte sie. „Was hast du denn gemacht?“ fragte er.
„Geträumt.“
„Wovon?“
„Von Männern“, erwiderte Becky und rekelte sich genussvoll. Ziemlich langweiliger Traum, fand Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
„Das wäre himmlisch.“
Gaylord krabbelte aus dem Bett, zog wieder seinen Schlafanzug hoch und trabte zur Tür.
„Geht wie der Blitz“, verkündete er. Dann ging er zu Mummi und Paps.
Zu seiner Verwunderung lag Mummi allein im Bett.
„Mummi, wo ist denn Paps?“ fragte er.
„Auf dem Dachboden“, sagte Mummi.
Gaylord ging zum Toilettentisch und spielte mit den Sachen herum, die dort lagen. „Warum ist Paps auf dem Dachboden, Mummi?“ fragte er.
„Weil er ein Schuft ist, und wir wieder einmal verschiedener Meinung waren“, sagte Mummi.
„Worüber denn?“ fragte Gaylord.
„Über Geld“, antwortete Mummi.
Gaylord kletterte auf den Dachboden. Paps lag dort eingewicktelt in einen Wust von Armeewolldecken auf einem Feldbett und sah aus wie eine ägyptische Mumie, deren Verpackung sich gelöst hat. Verzweiflungsvoll suchte er, sich schlafend zu stellen.
„Warum schläfst du denn auf dem Dachboden, Paps?“ fragte Gaylord.
„Ich schlafe ja gar nicht“, sagte Paps. „Ich habe geschlafen, aber man hat mich brutal geweckt.“
Sanfte Vorwürfe gehörten auch zu den Dingen, gegen die Gaylord unempfindlich war. „Es muss doch ziemlich kalt sein auf dem Dachboden“, sagte er.
„Ist es auch“, sagte Paps. „Saukalt.“
„Mummi schien es sehr gemütlich zu haben“, sagte Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“
„Bitte“, sagte Paps und drehte sich zur Wand.
Voller Eifer begab sich Gaylord an sein karitatives Werk. Unten in der Küche drehte er erst einmal den Kaltwasserhahn weit auf. Dann presste er den Finger unter die Hahnöffnung. Köstlich spritze das Wasser durch die Küche und über Gaylord. Er betrachtete seinen triefenden Schlafanzug und strich im Geiste Mummi von seiner Teeliste.
In dem großen, weitläufigen Haus lag die Familie im sonntagmorgendlichen Winterschlaf, eingekuschelt gegen die Kälte und den kommenden Tag.
Aber Gaylord war gegen Kälte unempfindlich. Der junge Gaylord Pentecost war gegen die meisten Dinge unempfindlich. Gleich nach dem Aufwachen hopste er erst mal ein bisschen auf dem Bett herum. Als ihm das langweilig wurde, zog er die Schlafanzughose auf seine nichtvorhandene Taille herauf und machte sich auf eine Besuchstour durch das Haus.
Zuerst war Opa an der Reihe. In seinem Zimmer war es noch dunkel. Gaylord zog die Vorhänge auf.
Die Vorhänge hingen an Messingringen. Wenn andere sie zurückzogen, klapperten sie wie Kastagnetten. Wenn Gaylord sie zurückzog, klang es wie eine Maschinengewehrsalve.
Opa öffnete nicht einmal die Augen. „Verschwinde, zum Teufel noch einmal“, sagte er.
Opa wirkte unter der Bettdecke wie ein massiver, kleiner runder Berg. Gaylord nahm einen Anlauf und landete mitten auf dem Berg. „Ich bin ein Ritter“, schrie er. „Und du bist mein Schlachtross.“
„Ich bin kein Schlachtross“, sagte Opa. „Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben will. Herrgott noch mal.“
Neugierig berührte Gaylord mit dem Finger eins der faltigen Augenlider. Er schob das Lid nach oben und betrachtete nachdenklich das gelbe, unheilverkündende Auge. Er ließ das Lid wieder herunterklappen. „Soll ich dir eine Tasse Tee machen?“
„Wenn du recht lange dazu brauchst, ja“, sagte Opa. Gaylord kletterte von ihm herunter. „Geht wie der Blitz“, antwortete er vergnügt.
„Bitte, lass dir Zeit“, sagte Opa.
Gaylord spazierte weiter zu Großtante Marygold. „Willst du eine Tasse Tee haben?“ schrie er von der Tür her.
Aber Großtante Marygold, deren Hörapparat neben der Brille und den falschen Zähnen auf dem Nachttisch lag, verhielt sich mucksmäuschenstill und stellte wieder einmal fest, dass bei solchen Gelegenheiten ihre Taubheit kein Leiden war, sondern sich als Segen und himmlische Zuflucht entpuppte.
Gaylord begab sich zu Tante Rosie. Tante Rosies längliches, blasses Gesicht wirkte auf dem weißen Kissen nur wie ein gelblicher Fleck. Beim Anblick ihres Neffen wurde es keineswegs fröhlicher. „Was liest du denn da?“ fragte Gaylord.
„Ein Buch.“
„Wie heißt es?“
„Psychopathologie des Alltags“, sagte Tante Rosie. „Bist du jetzt klüger?“ fragte sie mürrisch.
Wie Kohlen in eine Schütte purzelten die Silben in Gaylords Gehirn und lagen dort in wildem Durcheinander. Er trat dicht an das Bett heran und spähte Tante Rosie über die Schulter.
„Sind Bilder drin?“
„Nein“, sagte Tante Rosie.
„Wovon handelt es denn?“
„Von Psychopathologie“, sagte Tante Rosie. „im täglichen Leben“, fügte sie belehrend hinzu.
Gaylord zog versuchsweise an ihrer Bettdecke. „Darf ich in dein Bett kommen?“
Mit Tante Rosie ging urplötzlich eine Veränderung vor sich. Wie eine in die Enge getriebene Katze krümmte sie sich zusammen. Ihre Lippen spannten sich über den Zähnen. Sie umklammerte ihr Buch wie ein Radfahrer die Lenkstange, wenn er ohne Bremse bergab rast. „Ausgerechnet in der einzigen Stunde am Tag, in der ich vor dieser verflixten, verrückten Familie Ruhe habe, musst du hier reinkommen! Raus jetzt und lass mich weiterlesen. Geh zu Becky. Sie hat bestimmt gern jemand bei sich im Bett, selbst dich.“ Vor Erregung zitternd, starrte sie in ihr Buch.
Gaylord betrachtete sie interessiert. Das hatte er schon oft bei ihr erlebt. Man unterhielt sich ganz normal mit Tante Rosie, und plötzlich tat sie, als wollte sie einen anspringen. Sehr interessant. Natürlich wusste er, woran das lag. Das hatte er von Opa gehört. Er kletterte auf das Fußende des Messingbetts. Es hatte wohl nicht viel Sinn, länger hierzubleiben. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
Tante Rosie gab keine Antwort. Gaylord nahm sich vor, Tante Becky zu besuchen.
Tante Becky war wie Erdbeeren mit Sahne, ganz Rüschen und Spitzen. Gaylord hatte Tante Becky gern. Er war so gut wie entschlossen, sie zu heiraten, wenn er erst einmal groß war. Jetzt zupfte er probeweise an ihrer Bettdecke. „Schlüpf rein“, sagte Tante Becky.
Er schlüpfte hinein. Tante Becky war warm und weich und roch gut. Gaylord war weder warm noch weich. Es ist, als habe man einen großen Fisch im Bett, dachte Becky. „Wo warst du denn schon überall?“ fragte sie.
„Bei Tante Rosie.“
„Und was hat sie getan?“
„Gelesen.“
Tante Becky schien amüsiert. „Was denn?“
Gaylord dachte an den Haufen Silben. „Psychologo... irgendwas mit Lokomotive“, sagte er auf gut Glück.
„Großer Gott.“
„Und dann wurde sie ganz komisch.“
„Komisch?“
„Ganz verdreht. Ich glaube, sie wollte mich nicht bei sich haben.“
„Arme Rosie“, murmelte Becky faul und zufrieden.
Jetzt fand Gaylord es an der Zeit, Opas Diagnose anzubringen. „Sind ihre verflixten Nerven“, sagte er.
Tante Becky warf den Kopf zurück und lachte. Zwischen ihren weißen Zähnen konnte Gaylord die kleine rosa Zunge sehen. Er streckte einen Finger vor und berührte sie. „Was hast du denn gemacht?“ fragte er.
„Geträumt.“
„Wovon?“
„Von Männern“, erwiderte Becky und rekelte sich genussvoll. Ziemlich langweiliger Traum, fand Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“ fragte er.
„Das wäre himmlisch.“
Gaylord krabbelte aus dem Bett, zog wieder seinen Schlafanzug hoch und trabte zur Tür.
„Geht wie der Blitz“, verkündete er. Dann ging er zu Mummi und Paps.
Zu seiner Verwunderung lag Mummi allein im Bett.
„Mummi, wo ist denn Paps?“ fragte er.
„Auf dem Dachboden“, sagte Mummi.
Gaylord ging zum Toilettentisch und spielte mit den Sachen herum, die dort lagen. „Warum ist Paps auf dem Dachboden, Mummi?“ fragte er.
„Weil er ein Schuft ist, und wir wieder einmal verschiedener Meinung waren“, sagte Mummi.
„Worüber denn?“ fragte Gaylord.
„Über Geld“, antwortete Mummi.
Gaylord kletterte auf den Dachboden. Paps lag dort eingewicktelt in einen Wust von Armeewolldecken auf einem Feldbett und sah aus wie eine ägyptische Mumie, deren Verpackung sich gelöst hat. Verzweiflungsvoll suchte er, sich schlafend zu stellen.
„Warum schläfst du denn auf dem Dachboden, Paps?“ fragte Gaylord.
„Ich schlafe ja gar nicht“, sagte Paps. „Ich habe geschlafen, aber man hat mich brutal geweckt.“
Sanfte Vorwürfe gehörten auch zu den Dingen, gegen die Gaylord unempfindlich war. „Es muss doch ziemlich kalt sein auf dem Dachboden“, sagte er.
„Ist es auch“, sagte Paps. „Saukalt.“
„Mummi schien es sehr gemütlich zu haben“, sagte Gaylord. „Willst du eine Tasse Tee?“
„Bitte“, sagte Paps und drehte sich zur Wand.
Voller Eifer begab sich Gaylord an sein karitatives Werk. Unten in der Küche drehte er erst einmal den Kaltwasserhahn weit auf. Dann presste er den Finger unter die Hahnöffnung. Köstlich spritze das Wasser durch die Küche und über Gaylord. Er betrachtete seinen triefenden Schlafanzug und strich im Geiste Mummi von seiner Teeliste.
Donnerstag, 22. März 2012
Mittwoch, 21. März 2012
Samuel Taylor Coleridge – Frost at Midnight
The Frost performs its secret ministry,
Unhelped by any wind. The owlet's cry
Came loud—and hark, again! loud as before.
The inmates of my cottage, all at rest,
Have left me to that solitude, which suits
Abstruser musings: save that at my side
My cradled infant slumbers peacefully.
'Tis calm indeed! so calm, that it disturbs
And vexes meditation with its strange
And extreme silentness. Sea, hill, and wood,
This populous village! Sea, and hill, and wood,
With all the numberless goings-on of life,
Inaudible as dreams! the thin blue flame
Lies on my low-burnt fire, and quivers not;
Only that film, which fluttered on the grate,
Still flutters there, the sole unquiet thing.
Methinks, its motion in this hush of nature
Gives it dim sympathies with me who live,
Making it a companionable form,
Whose puny flaps and freaks the idling Spirit
By its own moods interprets, every where
Echo or mirror seeking of itself,
And makes a toy of Thought.
But O! how oft,
How oft, at school, with most believing mind,
Presageful, have I gazed upon the bars,
To watch that fluttering stranger ! and as oft
With unclosed lids, already had I dreamt
Of my sweet birth-place, and the old church-tower,
Whose bells, the poor man's only music, rang
From morn to evening, all the hot Fair-day,
So sweetly, that they stirred and haunted me
With a wild pleasure, falling on mine ear
Most like articulate sounds of things to come!
So gazed I, till the soothing things, I dreamt,
Lulled me to sleep, and sleep prolonged my dreams!
And so I brooded all the following morn,
Awed by the stern preceptor's face, mine eye
Fixed with mock study on my swimming book:
Save if the door half opened, and I snatched
A hasty glance, and still my heart leaped up,
For still I hoped to see the stranger's face,
Townsman, or aunt, or sister more beloved,
My play-mate when we both were clothed alike!
Dear Babe, that sleepest cradled by my side,
Whose gentle breathings, heard in this deep calm,
Fill up the intersperséd vacancies
And momentary pauses of the thought!
My babe so beautiful! it thrills my heart
With tender gladness, thus to look at thee,
And think that thou shalt learn far other lore,
And in far other scenes! For I was reared
In the great city, pent 'mid cloisters dim,
And saw nought lovely but the sky and stars.
But thou, my babe! shalt wander like a breeze
By lakes and sandy shores, beneath the crags
Of ancient mountain, and beneath the clouds,
Which image in their bulk both lakes and shores
And mountain crags: so shalt thou see and hear
The lovely shapes and sounds intelligible
Of that eternal language, which thy God
Utters, who from eternity doth teach
Himself in all, and all things in himself.
Great universal Teacher! he shall mould
Thy spirit, and by giving make it ask.
Therefore all seasons shall be sweet to thee,
Whether the summer clothe the general earth
With greenness, or the redbreast sit and sing
Betwixt the tufts of snow on the bare branch
Of mossy apple-tree, while the nigh thatch
Smokes in the sun-thaw; whether the eave-drops fall
Heard only in the trances of the blast,
Or if the secret ministry of frost
Shall hang them up in silent icicles,
Quietly shining to the quiet Moon.
Unhelped by any wind. The owlet's cry
Came loud—and hark, again! loud as before.
The inmates of my cottage, all at rest,
Have left me to that solitude, which suits
Abstruser musings: save that at my side
My cradled infant slumbers peacefully.
'Tis calm indeed! so calm, that it disturbs
And vexes meditation with its strange
And extreme silentness. Sea, hill, and wood,
This populous village! Sea, and hill, and wood,
With all the numberless goings-on of life,
Inaudible as dreams! the thin blue flame
Lies on my low-burnt fire, and quivers not;
Only that film, which fluttered on the grate,
Still flutters there, the sole unquiet thing.
Methinks, its motion in this hush of nature
Gives it dim sympathies with me who live,
Making it a companionable form,
Whose puny flaps and freaks the idling Spirit
By its own moods interprets, every where
Echo or mirror seeking of itself,
And makes a toy of Thought.
But O! how oft,
How oft, at school, with most believing mind,
Presageful, have I gazed upon the bars,
To watch that fluttering stranger ! and as oft
With unclosed lids, already had I dreamt
Of my sweet birth-place, and the old church-tower,
Whose bells, the poor man's only music, rang
From morn to evening, all the hot Fair-day,
So sweetly, that they stirred and haunted me
With a wild pleasure, falling on mine ear
Most like articulate sounds of things to come!
So gazed I, till the soothing things, I dreamt,
Lulled me to sleep, and sleep prolonged my dreams!
And so I brooded all the following morn,
Awed by the stern preceptor's face, mine eye
Fixed with mock study on my swimming book:
Save if the door half opened, and I snatched
A hasty glance, and still my heart leaped up,
For still I hoped to see the stranger's face,
Townsman, or aunt, or sister more beloved,
My play-mate when we both were clothed alike!
Dear Babe, that sleepest cradled by my side,
Whose gentle breathings, heard in this deep calm,
Fill up the intersperséd vacancies
And momentary pauses of the thought!
My babe so beautiful! it thrills my heart
With tender gladness, thus to look at thee,
And think that thou shalt learn far other lore,
And in far other scenes! For I was reared
In the great city, pent 'mid cloisters dim,
And saw nought lovely but the sky and stars.
But thou, my babe! shalt wander like a breeze
By lakes and sandy shores, beneath the crags
Of ancient mountain, and beneath the clouds,
Which image in their bulk both lakes and shores
And mountain crags: so shalt thou see and hear
The lovely shapes and sounds intelligible
Of that eternal language, which thy God
Utters, who from eternity doth teach
Himself in all, and all things in himself.
Great universal Teacher! he shall mould
Thy spirit, and by giving make it ask.
Therefore all seasons shall be sweet to thee,
Whether the summer clothe the general earth
With greenness, or the redbreast sit and sing
Betwixt the tufts of snow on the bare branch
Of mossy apple-tree, while the nigh thatch
Smokes in the sun-thaw; whether the eave-drops fall
Heard only in the trances of the blast,
Or if the secret ministry of frost
Shall hang them up in silent icicles,
Quietly shining to the quiet Moon.
Dienstag, 20. März 2012
Stephenie Meyer – New Moon
I squared my shoulders and walked forward to meet my fate, with my destiny solidly by my side.
Donnerstag, 23. Februar 2012
Kazuo Ishiguro – Alles was wir geben mussten
Tommy tobte immer noch, als wir aus dem Pavillon traten. Das Haupthaus befand sich links von uns, und da Tommy in gerader Linie vor uns auf der Wiese stand, brauchten wir nicht weiter in seine Nähe zu kommen. Ohnehin drehte er uns den Rücken zu und nahm uns offensichtlich gar nicht wahr. Dennoch zog es mich zu ihm hinüber, während meine Freundinnen am Rand des Spielfeldes entlanggingen. Ich wußte, dass die anderen sich wundern würden, aber ich ging weiter – auch als Ruth in meinem Rücken zischelte, ich solle zurückkommen.
Wahrscheinlich war es Tommy nicht gewöhnt, in seinen Tobsuchtsanfällen gestört zu werden, denn als ich bei ihm war, starrte er mich nur eine Sekunde lang an und machte dann weiter wie zuvor. Es war tatsächlich, als arbeitete er gerade an einer Shakespeare-Szene und als wäre ich mitten in die Probe geplatzt. Auch als ich sagte: „Tommy, dein schönes Hemd. Es wird ganz schmutzig“, hatte ich nicht den Eindruck, dass er mich hörte.
Also streckte ich die Hand aus und wollte sie ihm auf den Arm legen. Seine Arme fuchtelten wild herum, und er konnte nicht wissen, dass ich in diesem Moment die Hand ausstreckte. Die anderen dachten später, er hätte es absichtlich getan, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es ein Versehen war: Als er einen Arm in die Höhe warf, stieß er meine Hand beiseite und traf mich an der Wange. Es tat überhaupt nicht weh, aber ich schnappte nach Luft, und die meisten Mädchen hinter mir ebenfalls.
In dem Augenblick schien Tommy mich endlich zu bemerken, mich, die anderen, sich selbst und die ganze Situation – dass er auf der Wiese stand und sich aufführte wie von Sinnen –, und er starrte mich ein bisschen einfältig an.
„Tommy“, sagte ich in ziemlich strengem Ton. „Dein Hemd ist voller Dreck.“
Wahrscheinlich war es Tommy nicht gewöhnt, in seinen Tobsuchtsanfällen gestört zu werden, denn als ich bei ihm war, starrte er mich nur eine Sekunde lang an und machte dann weiter wie zuvor. Es war tatsächlich, als arbeitete er gerade an einer Shakespeare-Szene und als wäre ich mitten in die Probe geplatzt. Auch als ich sagte: „Tommy, dein schönes Hemd. Es wird ganz schmutzig“, hatte ich nicht den Eindruck, dass er mich hörte.
Also streckte ich die Hand aus und wollte sie ihm auf den Arm legen. Seine Arme fuchtelten wild herum, und er konnte nicht wissen, dass ich in diesem Moment die Hand ausstreckte. Die anderen dachten später, er hätte es absichtlich getan, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es ein Versehen war: Als er einen Arm in die Höhe warf, stieß er meine Hand beiseite und traf mich an der Wange. Es tat überhaupt nicht weh, aber ich schnappte nach Luft, und die meisten Mädchen hinter mir ebenfalls.
In dem Augenblick schien Tommy mich endlich zu bemerken, mich, die anderen, sich selbst und die ganze Situation – dass er auf der Wiese stand und sich aufführte wie von Sinnen –, und er starrte mich ein bisschen einfältig an.
„Tommy“, sagte ich in ziemlich strengem Ton. „Dein Hemd ist voller Dreck.“
Mittwoch, 15. Februar 2012
Francis Beaufort – The Beaufort Wind Force Scale
Tonight:
Moderate gale. Whole trees in motion; inconvenience in walking against wind.
Dienstag, 7. Februar 2012
Paul & Daurio – Sleepy Kittens
Three little kittens loved to play.
They had fun in the sun all day.
Then their mother came out and said,
“Time for kittens to go to bed!”
Sonntag, 5. Februar 2012
Walter Moers – die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär
Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt – meins nicht. Zumindest weiß ich nicht, wie ich ins Leben gekommen bin. Ich könnte – rein theoretisch – aus dem Schaum einer Welle geboren oder in einer Muschel gewachsen sein, wie eine Perle. Vielleicht bin ich auch vom Himmel gefallen, in einer Sternschnuppe.
Donnerstag, 2. Februar 2012
Javier Marías – Morgen in der Schlacht denk an mich
Morgen in der Schlacht denk an mich, und es falle dein Schwert ohne Schneide. Morgen in der Schlacht denk an mich, als ich sterblich war, und es falle rostig deine Lanze. Möge ich morgen auf deiner Seele lasten, möge ich Blei sein in deiner Brust, und mögen deine Tage enden in blutiger Schlacht. Morgen in der Schlacht denk an mich, verzag und stirb.
Dienstag, 31. Januar 2012
Nicholas Evans – Der Pferdeflüsterer
„Dann haben wir die Stelle gefunden, nach der wir gesucht hatten. Es war eine steile Böschung, die zur Eisenbahnbrücke hinaufführte. Wir waren schon einmal oben gewesen, deshalb kannten wir den Pfad. Judith ritt jedenfalls voran, und weißt du, es war schon seltsam, aber Gully schien irgendwie zu spüren, dass was nicht stimmt. Er wollte nämlich nicht weiter, und Gully ist sonst nicht so.“
Sie hörte ihre eigenen Worte und merkte, dass sie die Zeiten verwechselt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und er lächelte.
„Also ging Gully rauf, und ich habe Judith gefragt, ob alles okay sei, und sie sagte nur, ich solle vorsichtig sein, und dann bin ich hinterher.“
„Musstest du Pilgrim antreiben?“
„Nein, überhaupt nicht. Mit ihm war es ganz anders, als mit Gully. Er freute sich, dass es weiterging.“
Sie blickte zu Boden und schwieg einen Augenblick. Ein Jährling wieherte leise und am anderen Pferchende. Tom legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Alles in Ordnung?“
Sie nickte.
„Und dann ist Gully ausgerutscht.“ Sie sah Tom an und wirkte plötzlich sehr ernst. „Weißt du, später hat man herausgefunden, dass der Pfad nur auf dieser Seite vereist war. Ein paar Zentimeter weiter links, und es wäre nichts passiert. Aber offenbar hat Gully mit einem Huf drauf gestanden, und das hat gereicht.“
Sie blickte zur Seite, und an der Art, wie sich ihre Schultern bewegten, erkannte Tom, welche Kraft es sie kostete, die Ruhe zu bewahren.
„Dann geriet er ins Rutschen. Man konnte sehen, wie er sich anstrengte und versuchte, die Beine in den Boden zu stemmen, aber er fand einfach keinen Halt. Die beiden kamen direkt auf uns zu, und Judith schrie, wir sollten aus dem Weg gehen. Sie klammerte sich an Gullys Hals fest, und ich wollte Pilgrim wenden. Ich weiß, dass ich viel zu heftig gewesen bin, hab richtig an seinen Zügeln gezerrt, verstehst du? Wenn ich doch bloß einen klaren Kopf behalten hätte und sanfter zu ihm gewesen wäre, dann hätte er sich vielleicht umgedreht. Aber ich glaub, ich hab ihm nur noch mehr Angst gemacht, und er ... er hat sich einfach nicht vom Fleck gerührt!“
Sie schwieg einen Augenblick und schluckte.
„Dann sind wir zusammengestoßen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich oben geblieben bin.“ Sie lachte leise. „Es wäre viel geschickter gewesen, wenn ich nicht oben geblieben wäre. Zumindest, wenn ich mich nicht so in den Steigbügeln verfangen hätte wie Judith. Als sie vom Pferd flog, war das, als hätte jemand mit einer Flagge gewinkt, verstehst du, als wäre sie federleicht und wie aus Nichts gemacht. Irgendwie hat sie im Fallen einen Salto geschlagen, jedenfalls hing ihr Bein im Steigbügel fest, und dann sind wir alle zusammen runtergerutscht. Es ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und weißt du was? Das Verrückteste war, als wir runterschlitterten, da hab ich gedacht, Mensch, dieser blaue Himmel und die Sonne und der Schnee auf den Bäumen und all das, eigentlich ist heute ein wunderschöner Tag.“
Sie hörte ihre eigenen Worte und merkte, dass sie die Zeiten verwechselt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und er lächelte.
„Also ging Gully rauf, und ich habe Judith gefragt, ob alles okay sei, und sie sagte nur, ich solle vorsichtig sein, und dann bin ich hinterher.“
„Musstest du Pilgrim antreiben?“
„Nein, überhaupt nicht. Mit ihm war es ganz anders, als mit Gully. Er freute sich, dass es weiterging.“
Sie blickte zu Boden und schwieg einen Augenblick. Ein Jährling wieherte leise und am anderen Pferchende. Tom legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Alles in Ordnung?“
Sie nickte.
„Und dann ist Gully ausgerutscht.“ Sie sah Tom an und wirkte plötzlich sehr ernst. „Weißt du, später hat man herausgefunden, dass der Pfad nur auf dieser Seite vereist war. Ein paar Zentimeter weiter links, und es wäre nichts passiert. Aber offenbar hat Gully mit einem Huf drauf gestanden, und das hat gereicht.“
Sie blickte zur Seite, und an der Art, wie sich ihre Schultern bewegten, erkannte Tom, welche Kraft es sie kostete, die Ruhe zu bewahren.
„Dann geriet er ins Rutschen. Man konnte sehen, wie er sich anstrengte und versuchte, die Beine in den Boden zu stemmen, aber er fand einfach keinen Halt. Die beiden kamen direkt auf uns zu, und Judith schrie, wir sollten aus dem Weg gehen. Sie klammerte sich an Gullys Hals fest, und ich wollte Pilgrim wenden. Ich weiß, dass ich viel zu heftig gewesen bin, hab richtig an seinen Zügeln gezerrt, verstehst du? Wenn ich doch bloß einen klaren Kopf behalten hätte und sanfter zu ihm gewesen wäre, dann hätte er sich vielleicht umgedreht. Aber ich glaub, ich hab ihm nur noch mehr Angst gemacht, und er ... er hat sich einfach nicht vom Fleck gerührt!“
Sie schwieg einen Augenblick und schluckte.
„Dann sind wir zusammengestoßen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich oben geblieben bin.“ Sie lachte leise. „Es wäre viel geschickter gewesen, wenn ich nicht oben geblieben wäre. Zumindest, wenn ich mich nicht so in den Steigbügeln verfangen hätte wie Judith. Als sie vom Pferd flog, war das, als hätte jemand mit einer Flagge gewinkt, verstehst du, als wäre sie federleicht und wie aus Nichts gemacht. Irgendwie hat sie im Fallen einen Salto geschlagen, jedenfalls hing ihr Bein im Steigbügel fest, und dann sind wir alle zusammen runtergerutscht. Es ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und weißt du was? Das Verrückteste war, als wir runterschlitterten, da hab ich gedacht, Mensch, dieser blaue Himmel und die Sonne und der Schnee auf den Bäumen und all das, eigentlich ist heute ein wunderschöner Tag.“
Mittwoch, 25. Januar 2012
Paulo Coelho – Veronika beschließt zu sterben
Am 11. November 1997 entschied Veronika, jetzt sei es – endlich – an der Zeit, sich das Leben zu nehmen. Sie machte ihr Zimmer sauber, das sie in einem Kloster gemietet hatte, stellte die Heizung ab, putzte die Zähne und legte sich aufs Bett.
Sie nahm die vier Schachteln mit den Schlaftabletten vom Nachttisch. Lieber wollte sie eine Tablette nach der anderen nehmen, anstatt sie zu zerdrücken und in Wasser aufzulösen, da schließlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Absicht und Umsetzung besteht und sie sich die Freiheit bewahren wollte, es sich auf halben Weg noch einmal anders überlegen zu können. Doch mit jeder heruntergeschluckten Tablette wurde sie sich ihrer Sache sicherer: Nach fünf Minuten waren alle Schachteln leer.
Sie nahm die vier Schachteln mit den Schlaftabletten vom Nachttisch. Lieber wollte sie eine Tablette nach der anderen nehmen, anstatt sie zu zerdrücken und in Wasser aufzulösen, da schließlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Absicht und Umsetzung besteht und sie sich die Freiheit bewahren wollte, es sich auf halben Weg noch einmal anders überlegen zu können. Doch mit jeder heruntergeschluckten Tablette wurde sie sich ihrer Sache sicherer: Nach fünf Minuten waren alle Schachteln leer.
Dienstag, 24. Januar 2012
Sara Gruen – Wasser für die Elefanten
Prolog
Es befanden sich nur noch drei Menschen unter der rot-weißen Markise des Hamburgerstands: Grady, ich und der Schnellkoch. Grady und ich saßen an einem abgenutzten Holztisch, jeder mit einem Hamburger auf einem verbeulten Blechtablett vor sich. Der Koch kratzte hinter der Theke mit der Ecke seines Pfannenwenders das Blech sauber. Die Fritteuse hatte er längst ausgestellt, aber der Fettgeruch hing noch in der Luft.
Der Rest der eben noch überfüllten Budengasse war leer bis auf eine Hand voll Angestellter und ein paar Männer, die darauf warteten, zum Muschizelt gebracht zu werden. Sie sahen sich nervös um, um Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Sie würden nicht enttäuscht werden: Weiter hinten wartete Barbara mit ihren üppigen Reizen.
Die anderen Städter – Onkel Al nannte sie Gadjos – hatten sich bereits einen Weg durch die Menagerie in Chapiteau gebahnt, das im Rhythmus der frenetischen Musik zu pulsieren schien. Das Orchester peitschte wie üblich ohrenbetäubend laut durch sein Repertoire. Den Ablauf kannte ich auswendig – gerade jetzt zogen die letzten der Parade aus der Manege, und Lotti, die Seiltänzerin, erklomm ihre Leiter.
Ich starrte Grady an und versuchte zu begreifen, was er da sagte. Er schaute sich um, dann beugte er sich zu mir vor.
„Außerdem“, flüsterte er und blickte mir in die Augen, „kommt es mir so vor, als hättest du gerade ’ne Menge zu verlieren.“ Er hob die Augenbrauen, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Im Zelt brandete tosender Applaus auf, und das Orchester wechselte nahtlos zum Gounod-Walzer. Ich drehte mich unwillkürlich nach der Menagerie um, denn der Walzer gab den Einsatz für die Elefantennummer. Marlena stieg entweder gerade auf oder saß bereits auf Rosies Kopf.
„Ich muss los“, sagte ich.
„Setz dich“, antwortete Grady. „Iss. Wenn du dich aus dem Staub machen willst, bekommst du vielleicht eine ganze Weile nichts mehr zu beißen.“
In diesem Augenblick brach die Musik mit einem Kreischen ab. Die Blasinstrumente und das Schlagzeug rasselten scheußlich zusammen – die Trompeten und Piccoloflöten schlitterten in ein Katzengeheule, eine Tuba rülpste, und das hohe Klirren eines Beckens waberte durch das Chapiteau über unsere Köpfe hinweg und verlor sich.
Grady erstarrte, über seinem Burger gebeugt, mit aufgerissenem Mund und abgespreizten kleinen Fingern.
Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand rührte sich – alle Blicke hingen am Chapiteau. Ein paar Büschel Stroh taumelten träge über die harte Erde.
„Was ist los? Was ist passiert?“, fragte ich.
„Psst“, zischte Grady.
Das Orchester spielte jetzt „Stars and Stripes Forever“.
„Oh Gott. Verdammter Mist!“ Grady warf seinen Hamburger auf den Tisch und sprang so hastig auf, dass die Bank umfiel.
„Was? Was ist los?“, schrie ich, denn er war bereits losgerannt.
„Der Katastrophenmarsch!“, rief er mir über die Schulter zu.
Ich wirbelte herum zum Koch, der eben seine Schürzenbänder aufriss. „Wovon zum Teufel redet er?“
„Vom Katastrophenmarsch“, sagte er und zerrte sich die Schürze übern Kopf. „Das heißt, es ist was Schlimmes passiert – was echt Schlimmes.“
„Was denn?“
„Könnte alles Mögliche sein – ein Feuer im Chapiteau, eine Stampede, irgendwas. Gottverdammt. Die armen Gadjos haben wahrscheinlich noch keinen Schimmer.“ Er bückte sich unter der Klapptür hindurch und lief los.
Chaos – Süßwarenverkäufer hechteten über Theken, Arbeiter taumelten hinter Zelttüren hervor, Racklos rannten quer über den Platz: Wer auch immer etwas mit Benzinis Spektakulärster Show der Welt zu tun hatte, raste auf das Chapiteau zu.
Diamond Joe überholte mich in einer Art vollem Galopp.
„Jacob – die Menagerie“, rief er. „Die Tiere sind los. Schnell, beeil dich!“
Das musste er mir nicht zweimal sagen. Marlena war in dem Zelt.
Als ich näher kam, spürte ich ein Grollen, das mir eine Heidenangst einjagte, denn es war tiefer als Lärm. Der Boden vibrierte.
Ich taumelte hinein und stand vor einem Yak – einer Wand aus gelocktem Fell mit stampfenden Hufen, roten, geblähten Nüstern und verdrehten Augen. Es galoppierte so nah an mir vorbei, dass ich mich nach hinten warf und gegen die Zeltwand drückte, um nicht von den gekrümmten Hörnern aufgespießt zu werden. An seine Schulter klammerte sich eine verängstigte Hyäne.
Der Verkaufsstand in der Mitte der Menagerie war dem Boden gleichgemacht worden, an seiner Stelle wogten gefleckte und gestreifte Flanken, Hufe, Schwänze und Klauen, alles knurrte, fauchte, brüllte oder wieherte. Ein Eisbär überragte alles andere und schlug blindlings mit den tellergroßen Tatzen um sich. Er erwischte ein Lama und warf es um – klatsch. Das Lama krachte zu Boden und streckte Hals und Beine von sich wie die fünf Zacken eines Sterns. Schimpansen hangelten sich schreiend und schnatternd an Seilen entlang, um außer Reichweite der Raubkatzen zu bleiben. Ein Zebra schlug mit aufgerissenen Augen Haken, dabei kam es einem kauernden Löwen zu nahe, der nach dem Zebra sprang, es verfehlte und dann dicht über dem Boden davonjagte.
Verzweifelt suche ich das Zelt nach Marlena ab, aber ich sah nur eine Raubkatze durch den Verbindungsgang zum Chapiteau gleiten – es war ein Panther, und als sein geschmeidiger, schwarzer Körper im Tunnel verschwand, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Wenn die Gadjos jetzt noch ahnungslos waren,würde sich das bald ändern. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann kam er – der erste Schrei, dann noch einer und noch einer, und schließlich explodierte alles unter dem Donnern der Menschen, die versuchten, an den anderen vorbei und das Gradin hinunterzugelangen. Das Orchester brach ein zweites mal kreischend ab, diesmal blieb es still. Ich schloss die Augen: Gott, lass sie bitte hinten raus fliehen. Bitte, Gott, sie dürfen es nicht hier vorne versuchen.
Ich machte die Augen wieder auf und suchte weiter verzweifelt die Menagerie nach ihr ab. Wie schwer kann es denn sein, einen Elefanten und ein Mädchen zu finden, verdammt!
Als ich ihre pinkfarbenen Pailletten sah, schrie ich vor Erleichterung beinahe auf – vielleicht tat ich es sogar. Ich weiß es nicht mehr.
Sie stand mit gegenüber vor der Rundleinwand, so ruhig wie ein Bergsee. Ihre Pailletten glitzerten wie flüssige Diamanten, wie ein funkelndes Leuchtfeuer zwischen den bunten Fellen. Sie sah mich ebenfalls, und wir blickten einander eine Ewigkeit in die Augen. Sie wirkte gelassen und träge. Und lächelte sogar. Ich wollte mir einen Weg zu ihr bahnen, aber etwas in ihrer Miene ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.
Vor ihr stand dieser Dreckskerl, er drehte ihr den Rücken zu, brüllte mit hochrotem Kopf und schwang seinen Stock mit der Silberspitze. Sein Seidenzylinder lag neben ihm im Stroh.
Sie griff nach etwas. Eine Giraffe rannte zwischen uns hindurch – selbst in Panik bewegte sich ihr Hals anmutig –, und als ich wieder freie Sicht hatte, erkannte ich, dass sie eine Eisenstange gepackt hielt. Sie umfasste sie ganz locker, das eine Ende ließ sie auf dem Boden aufliegen. Sie sah mich wieder an, tief in Gedanken. Dann richtete sie den Blick auf seinen bloßen Hinterkopf.
„Großer Gott.“ Plötzlich verstand ich. Ich stolperte schreiend vorwärts, obwohl meine Stimme sie auf keinen Fall erreichen konnte. „Tu das nicht! Tu das nicht!“
Sie hob die Stange und schlug zu, dabei spaltete sie seinen Kopf wie eine Wassermelone. Sein Schädel platzte, er riss die Augen auf, und sein Mund erstarrte zu einem O. Dann fiel er auf die Knie und kippte vornüber ins Stroh.
Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte, noch nicht einmal, als mir ein junger Orang-Utan seine geschmeidigen Arme um die Beine schlang.
So lange ist es her. So lange. Und es verfolgt mich noch immer.
Ich rede nicht oft über damals. Habe ich noch nie. Ich weiß nicht, warum – fast sieben Jahre lang habe ich beim Zirkus gearbeitet, und wenn das keinen Gesprächsstoff liefert, was dann.
Ehrlich gesagt weiß ich, warum. Ich habe mir nie getraut. Ich hatte Angst, es würde mir herausrutschen. Ich wusste, wie wichtig es war, ihr Geheimnis zu hüten, und das tat ich auch – ihr Leben lang und darüber hinaus.
Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt.
Es befanden sich nur noch drei Menschen unter der rot-weißen Markise des Hamburgerstands: Grady, ich und der Schnellkoch. Grady und ich saßen an einem abgenutzten Holztisch, jeder mit einem Hamburger auf einem verbeulten Blechtablett vor sich. Der Koch kratzte hinter der Theke mit der Ecke seines Pfannenwenders das Blech sauber. Die Fritteuse hatte er längst ausgestellt, aber der Fettgeruch hing noch in der Luft.
Der Rest der eben noch überfüllten Budengasse war leer bis auf eine Hand voll Angestellter und ein paar Männer, die darauf warteten, zum Muschizelt gebracht zu werden. Sie sahen sich nervös um, um Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen vergraben. Sie würden nicht enttäuscht werden: Weiter hinten wartete Barbara mit ihren üppigen Reizen.
Die anderen Städter – Onkel Al nannte sie Gadjos – hatten sich bereits einen Weg durch die Menagerie in Chapiteau gebahnt, das im Rhythmus der frenetischen Musik zu pulsieren schien. Das Orchester peitschte wie üblich ohrenbetäubend laut durch sein Repertoire. Den Ablauf kannte ich auswendig – gerade jetzt zogen die letzten der Parade aus der Manege, und Lotti, die Seiltänzerin, erklomm ihre Leiter.
Ich starrte Grady an und versuchte zu begreifen, was er da sagte. Er schaute sich um, dann beugte er sich zu mir vor.
„Außerdem“, flüsterte er und blickte mir in die Augen, „kommt es mir so vor, als hättest du gerade ’ne Menge zu verlieren.“ Er hob die Augenbrauen, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Im Zelt brandete tosender Applaus auf, und das Orchester wechselte nahtlos zum Gounod-Walzer. Ich drehte mich unwillkürlich nach der Menagerie um, denn der Walzer gab den Einsatz für die Elefantennummer. Marlena stieg entweder gerade auf oder saß bereits auf Rosies Kopf.
„Ich muss los“, sagte ich.
„Setz dich“, antwortete Grady. „Iss. Wenn du dich aus dem Staub machen willst, bekommst du vielleicht eine ganze Weile nichts mehr zu beißen.“
In diesem Augenblick brach die Musik mit einem Kreischen ab. Die Blasinstrumente und das Schlagzeug rasselten scheußlich zusammen – die Trompeten und Piccoloflöten schlitterten in ein Katzengeheule, eine Tuba rülpste, und das hohe Klirren eines Beckens waberte durch das Chapiteau über unsere Köpfe hinweg und verlor sich.
Grady erstarrte, über seinem Burger gebeugt, mit aufgerissenem Mund und abgespreizten kleinen Fingern.
Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand rührte sich – alle Blicke hingen am Chapiteau. Ein paar Büschel Stroh taumelten träge über die harte Erde.
„Was ist los? Was ist passiert?“, fragte ich.
„Psst“, zischte Grady.
Das Orchester spielte jetzt „Stars and Stripes Forever“.
„Oh Gott. Verdammter Mist!“ Grady warf seinen Hamburger auf den Tisch und sprang so hastig auf, dass die Bank umfiel.
„Was? Was ist los?“, schrie ich, denn er war bereits losgerannt.
„Der Katastrophenmarsch!“, rief er mir über die Schulter zu.
Ich wirbelte herum zum Koch, der eben seine Schürzenbänder aufriss. „Wovon zum Teufel redet er?“
„Vom Katastrophenmarsch“, sagte er und zerrte sich die Schürze übern Kopf. „Das heißt, es ist was Schlimmes passiert – was echt Schlimmes.“
„Was denn?“
„Könnte alles Mögliche sein – ein Feuer im Chapiteau, eine Stampede, irgendwas. Gottverdammt. Die armen Gadjos haben wahrscheinlich noch keinen Schimmer.“ Er bückte sich unter der Klapptür hindurch und lief los.
Chaos – Süßwarenverkäufer hechteten über Theken, Arbeiter taumelten hinter Zelttüren hervor, Racklos rannten quer über den Platz: Wer auch immer etwas mit Benzinis Spektakulärster Show der Welt zu tun hatte, raste auf das Chapiteau zu.
Diamond Joe überholte mich in einer Art vollem Galopp.
„Jacob – die Menagerie“, rief er. „Die Tiere sind los. Schnell, beeil dich!“
Das musste er mir nicht zweimal sagen. Marlena war in dem Zelt.
Als ich näher kam, spürte ich ein Grollen, das mir eine Heidenangst einjagte, denn es war tiefer als Lärm. Der Boden vibrierte.
Ich taumelte hinein und stand vor einem Yak – einer Wand aus gelocktem Fell mit stampfenden Hufen, roten, geblähten Nüstern und verdrehten Augen. Es galoppierte so nah an mir vorbei, dass ich mich nach hinten warf und gegen die Zeltwand drückte, um nicht von den gekrümmten Hörnern aufgespießt zu werden. An seine Schulter klammerte sich eine verängstigte Hyäne.
Der Verkaufsstand in der Mitte der Menagerie war dem Boden gleichgemacht worden, an seiner Stelle wogten gefleckte und gestreifte Flanken, Hufe, Schwänze und Klauen, alles knurrte, fauchte, brüllte oder wieherte. Ein Eisbär überragte alles andere und schlug blindlings mit den tellergroßen Tatzen um sich. Er erwischte ein Lama und warf es um – klatsch. Das Lama krachte zu Boden und streckte Hals und Beine von sich wie die fünf Zacken eines Sterns. Schimpansen hangelten sich schreiend und schnatternd an Seilen entlang, um außer Reichweite der Raubkatzen zu bleiben. Ein Zebra schlug mit aufgerissenen Augen Haken, dabei kam es einem kauernden Löwen zu nahe, der nach dem Zebra sprang, es verfehlte und dann dicht über dem Boden davonjagte.
Verzweifelt suche ich das Zelt nach Marlena ab, aber ich sah nur eine Raubkatze durch den Verbindungsgang zum Chapiteau gleiten – es war ein Panther, und als sein geschmeidiger, schwarzer Körper im Tunnel verschwand, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Wenn die Gadjos jetzt noch ahnungslos waren,würde sich das bald ändern. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann kam er – der erste Schrei, dann noch einer und noch einer, und schließlich explodierte alles unter dem Donnern der Menschen, die versuchten, an den anderen vorbei und das Gradin hinunterzugelangen. Das Orchester brach ein zweites mal kreischend ab, diesmal blieb es still. Ich schloss die Augen: Gott, lass sie bitte hinten raus fliehen. Bitte, Gott, sie dürfen es nicht hier vorne versuchen.
Ich machte die Augen wieder auf und suchte weiter verzweifelt die Menagerie nach ihr ab. Wie schwer kann es denn sein, einen Elefanten und ein Mädchen zu finden, verdammt!
Als ich ihre pinkfarbenen Pailletten sah, schrie ich vor Erleichterung beinahe auf – vielleicht tat ich es sogar. Ich weiß es nicht mehr.
Sie stand mit gegenüber vor der Rundleinwand, so ruhig wie ein Bergsee. Ihre Pailletten glitzerten wie flüssige Diamanten, wie ein funkelndes Leuchtfeuer zwischen den bunten Fellen. Sie sah mich ebenfalls, und wir blickten einander eine Ewigkeit in die Augen. Sie wirkte gelassen und träge. Und lächelte sogar. Ich wollte mir einen Weg zu ihr bahnen, aber etwas in ihrer Miene ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.
Vor ihr stand dieser Dreckskerl, er drehte ihr den Rücken zu, brüllte mit hochrotem Kopf und schwang seinen Stock mit der Silberspitze. Sein Seidenzylinder lag neben ihm im Stroh.
Sie griff nach etwas. Eine Giraffe rannte zwischen uns hindurch – selbst in Panik bewegte sich ihr Hals anmutig –, und als ich wieder freie Sicht hatte, erkannte ich, dass sie eine Eisenstange gepackt hielt. Sie umfasste sie ganz locker, das eine Ende ließ sie auf dem Boden aufliegen. Sie sah mich wieder an, tief in Gedanken. Dann richtete sie den Blick auf seinen bloßen Hinterkopf.
„Großer Gott.“ Plötzlich verstand ich. Ich stolperte schreiend vorwärts, obwohl meine Stimme sie auf keinen Fall erreichen konnte. „Tu das nicht! Tu das nicht!“
Sie hob die Stange und schlug zu, dabei spaltete sie seinen Kopf wie eine Wassermelone. Sein Schädel platzte, er riss die Augen auf, und sein Mund erstarrte zu einem O. Dann fiel er auf die Knie und kippte vornüber ins Stroh.
Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte, noch nicht einmal, als mir ein junger Orang-Utan seine geschmeidigen Arme um die Beine schlang.
So lange ist es her. So lange. Und es verfolgt mich noch immer.
Ich rede nicht oft über damals. Habe ich noch nie. Ich weiß nicht, warum – fast sieben Jahre lang habe ich beim Zirkus gearbeitet, und wenn das keinen Gesprächsstoff liefert, was dann.
Ehrlich gesagt weiß ich, warum. Ich habe mir nie getraut. Ich hatte Angst, es würde mir herausrutschen. Ich wusste, wie wichtig es war, ihr Geheimnis zu hüten, und das tat ich auch – ihr Leben lang und darüber hinaus.
Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt.
Donnerstag, 19. Januar 2012
Adelbert von Chamisso – Peter Schlemihls wundersame Geschichte
„So, so!“ wiederholte er, „bedenklich“, und er brach in ein lautes Gelächter gegen mich aus. „Und wenn ich fragen darf, was ist denn das für ein Ding, Ihre Seele? Haben Sie es je gesehen, und was denken Sie damit anzufangen, wenn Sie einst tot sind? Seien Sie doch froh, einen Liebhaber zu finden, der Ihnen bei Lebenszeit noch den Nachlaß dieses X, dieser galvanischen Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit, und was alles das närrische Ding sein soll, mit etwas Wirklichem bezahlen will, nämlich mit Ihrem leibhaftigen Schatten, durch den Sie zu der Hand Ihrer Geliebten und zu der Erfüllung aller Ihrer Wünsche gelangen können.“
Donnerstag, 12. Januar 2012
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