Mittwoch, 29. Juni 2011

Roald Dahl – Sophiechen und der Riese

«Ich möchte, daß die Königin von England träumt, wie neun ekelhafte Riesen – jeder ungefähr sechzehn Meter dreiundzwanzig lang – bei Dunkelwerden nach England galoppieren. Sie soll auch ihre Namen träumen. Wie waren noch gleich die Namen?»
«Fleischfetzenfresser», sagte der GuRie. «Menschenpresser. Knochenknacker. Kinderkauer. Hackepeter. Klumpenwürger. Mädchenmanscher. Blutschlucker. Und Metzgerhetzer.»
«Laß sie alle diese Namen träumen», sagte Sophiechen. «Und laß sie träumen, wie diese Typen sich einschleichen nach England mitten in der Nacht, zur Geisterstunde, und wie sie sich kleine Jungen und Mädchen aus den Betten grapschen. Laß sie träumen, wie die Riesen durch die Schlafzimmerfenster greifen, wie sie die kleinen Jungen und Mädchen aus den warmen Betten zerren und sie dann …» Sophiechen mußte abbrechen. Aber dann kam sie doch mit der Frage heraus: «Wie ist das eigentlich? Werden sie gleich an Ort und Stelle verspeist oder erst einmal woandershin gebracht?»
«Die schmeißen sie sich immer direkt ins Maul wie Kartoffelchips», sagte der GuRie.

Montag, 20. Juni 2011

Herman Melville – Moby Dick

Was nun kam, war ein grauenhaftes, erbarmungswürdiges Schauspiel. Den Kopf über dem Wasser, schwamm der Wal dahin, der Strahl, den er ausblies, kam qualvoll und in jagender Hast, mit seiner einen, armseligen Finne schlug er sich in entsetzlicher Todesangst gegen die Flanke. Bald taumelte er auf diese Seite, bald auf jene; bei jeder Woge, die er durchbrach, sackte er ab und rollte zur Seite, so daß seine Finne kläglich gen Himmel wies. So kreist der Vogel mit gestutzten Schwingen in furchtsamen, unregelmäßigen Kreisen in der Luft und strebt vergebens, dem räuberischen Habicht zu entkommen. Aber der Vogel hat eine Stimme und kann seine Todesangst laut hinausschreien. Die Todesangst dieser großen, stummen Kreatur war eingeschlossen in dem Riesenleib; sie hatte keine Stimme, nur ein dumpfes Röcheln, das durch das Spritzloch kam. Das Bild wurde dadurch noch jammervoller. Und dennoch konnten der mächtige Leib, der schnappende Kiefer und der allgewaltige Schwanz auch dem kühnsten Mann noch Furcht einjagen.

...

Lange konnte der Wal die Hetzjagd nicht durchhalten. Er stöhnte laut auf und ging brausend in die Tiefe. Knirschend liefen die drei Leinen von den Pollern ab und schnitten tiefe Rillen ein. Die Harpuniere fürchteten, daß bei diesem plötzlichen Untertauchen die Leinen gänzlich auslaufen könnten; darum gaben sie, um dem vorzubeugen, noch einige Seilschlingen zu. Der Druck auf die Seile wurde schließlich so stark, daß die Boote mit dem Dollbord am Bug fast im Wasser lagen, während sie am Heck hoch in die Luft ragten. Da der Wal jetzt nicht mehr tiefer tauchte, blieben sie eine Zeitlang in dieser Lage, die durchaus nicht ungefährlich war, denn auf diese Weise war schon manches Boot hinabgerissen worden und verlorengegangen. So lagen die drei Boote auf der leise bewegten See unter dem ewig blauen Mittagshimmel. Kein Stöhnen, kein Schrei, nichts, kein Wellengekräusel, keine Blase kam aus der Tiefe. Welche Landratte hätte gedacht, daß tief unten das gewaltigste Ungeheuer des Meeres sich im Todeskampf wand?
»Achtung, Leute, er rührt sich«, rief Stubb, als sich die Leinen plötzlich regten und die letzten Zuckungen des Wales aus der Tiefe meldeten, so daß jeder Mann am Ruder sie wahrnehmen konnte. Sogleich ließ auch der Druck auf den Bug nach. Die drei Boote schnellten unvermittelt empor wie ein Eisfeld, wenn ein Rudel Eisbären in plötzlichem Schrecken ins Meer flieht.
»Hol ein! Hol ein!« schrie Starbuck wieder. »Er taucht auf!«
Die Leinen, die Sekunden vorher noch keine Handbreit nachgegeben hätten, wurden nun tropfnaß in langen Schlingen schnell ins Boot gezogen, und bald durchbrach auch der Wal zwei Schiffslängen vor den Jägern die Wasseroberfläche. Seine Bewegungen verrieten, daß er am Ende seiner Kräfte war. Die Boote drangen immer näher auf das Tier ein und gerieten in gefährliche Nähe seines Schwanzes. Doch die Lanzen bohrten sich immer häufiger in seinen Riesenleib, und aus jeder neuen Wunde spritzte das Blut in hohen Fontänen empor, während das Blasloch oben am Kopf nur noch mühsam und in Abständen seinen Strahl in die Luft stieß. Doch kam aus diesem letzten Ventil noch kein Blut, denn noch war kein lebenswichtiges Organ im Innern getroffen. Das Leben, wie man bezeichnenderweise sagt, war noch unversehrt.
Die Boote schlossen sich immer enger um ihn zusammen, die ganze obere Hälfte des Körpers, sonst zum größten Teil unter Wasser, lag offen zutage. Die Augen oder vielmehr die Stellen, wo sie gewesen waren, wurden sichtbar. So wie sich an der edlen Eiche in Knorren und Astlöchern allerlei Mißwuchs bildet, so traten dort, wo sich einst die Augen des Wals befunden hatten, zwei blinde Kugeln hervor – ein erbarmungswürdiger Anblick. Aber Erbarmen gab es hier nicht. Der alte, blinde einarmige Wal mußte sterben. Er wurde ermordet, denn sein Öl soll brennen zu den Festen der Menschen und den Feiern der Kirche, wo man die Liebe zu allen Geschöpfen predigt.

Sonntag, 19. Juni 2011

Douglas Adams – The ultimate Hitchhiker’s Guide to the Galaxy

Far out in the uncharted backwaters of the unfashionable end of the western spiral arm of the Galaxy lies a small unregarded yellow sun.
Orbiting this at a distance of roughly ninety-two million miles is an utterly insignificant little blue green planet whose ape-descended life forms are so amazingly primitive that they still think digital watches are a pretty neat idea.
This planet has – or rather had – a problem, which was this: most of the people on it were unhappy for pretty much of the time. Many solutions were suggested for this problem, but most of these were largely concerned with the movements of small green pieces of paper, which is odd because on the whole it wasn't the small green pieces of paper that were unhappy.
And so the problem remained; lots of the people were mean, and most of them were miserable, even the ones with digital watches.
Many were increasingly of the opinion that they'd all made a big mistake in coming down from the trees in the first place. And some said that even the trees had been a bad move, and that no one should ever have left the oceans.
And then, one Thursday, nearly two thousand years after one man had been nailed to a tree for saying how great it would be to be nice to people for a change, one girl sitting on her own in a small cafe in Rickmansworth suddenly realized what it was that had been going wrong all this time, and she finally knew how the world could be made a good and happy place. This time it was right, it would work, and no one would have to get nailed to anything.
Sadly, however, before she could get to a phone to tell anyone about it, a terribly stupid catastrophe occurred, and the idea was lost forever.
This is not her story.
But it is the story of that terrible stupid catastrophe and some of its consequences.
It is also the story of a book, a book called The Hitch Hiker's Guide to the Galaxy – not an Earth book, never published on Earth, and until the terrible catastrophe occurred, never seen or heard of by any Earthman.
Nevertheless, a wholly remarkable book.














Mittwoch, 15. Juni 2011

Craig Clevenger – Der geniale Mister Fletcher

Ein gelber Block, vom Gesetzgeber gestellt, Seite eins bisher leer. Akte 1, auf dem Kennungsschild steht in Tintenschrift: „Fletcher, D.“ Mein Gutachter schreibt acht Zeilen einführender Notizen, wobei er kurze, vogelartige Blicke in meine Richtung wirft. Der Gutachter schätz mich in meiner Einschätzung seiner Person ab.
Die folgenden Verhaltensweise solltest du auf jeden Fall unterlassen:
Fußwippeln.
Fingertrommeln.
Wechseln der Sitzposition.
Kratzen.
Abwischen der Stirn. Denn das wird er ins Protokoll aufnehmen.
Aber tu andererseits auch das nicht:
Allzu still zu sitzen.
Ein gewisser grad an Nervosität wird einem zugestanden. Sobald man zu ruhig wirkt, ist das verdächtig. Zu lernen, wie man sich natürlich verhält, hat mich Jahre der Übung gekostet. Am besten denkt man an den Familienvater aus geordneten Verhältnissen, der aus dem Pornokino kommt und sich umschaut wie ein verdutztes Nagetier, um dann schnell zu überprüfen, ob sein Hosenschlitz auch richtig geschlossen ist. Oder man denkt an den Jugendlichen, der sein Zimmer auslüftet und seine Fahne wegzugurgeln versucht, bevor seine Eltern nach Hause zurückkehren. Innerhalb von drei Jahren habe ich sechsmal meinen Namen geändert, meine Sozialversicherungsnummer, meine Eltern, meine berufliche Vergangenheit, die Schulzeugnisse und Fingerabdrücke. Und immer noch muss ich mich daran erinnern, mich natürlich zu benehmen. Ich verfalle auf die Spiegelmethode, nähere mich der Sitzhaltung des Gutachters an: Füße flach auf den Boden, Hände offen sichtbar mit leicht vornübergebeugtem Oberkörper, Selbstvertrauen, Ehrlichkeit. Die wichtigste Einzelheit, die man nie vergessen sollte, ist die Frequenz, mit der man seine Haltung ändern sollte. Beweg dich im Schnitt mindestens alle fünf Minuten mal. Manche werden so von ihrer Geschichte in Anspruch genommen, dass sie vergessen, sich zu bewegen. Während sie all die vielen Details in ihrem Kopf herumjonglieren, überfällt sie eine verräterische Leichenstarre, und das verdirbt alles, offenbart sofort die Schwachstellen ihres Lügengebäudes.

Montag, 6. Juni 2011

Nancy H. Kleinbaum – Der Club der toten Dichter

Als die Jungen hereinkamen, ging Keating in der Halle umher. Er betrachtete die Klassenfotos, die an den Wänden hingen und die zum Teil noch aus dem vorigen Jahrhundert stammten. Außerdem schmückten Trophäen jeder Art die Regale und Glaskästen.
Nach einer Weile hatte Keating das Gefühl, dass alle Platz genommen hatten. Nun wandte er sich ihnen zu. Er sah in seine Namensliste. „Mr. Pitts“, sagte er. „Ein unglücklicher Name. Stehen Sie auf, Mr. Pitts!“ Pitts stand auf. „Schlagen Sie das Textbuch auf Seite 542 auf, Pitts, und lesen Sie die erste Strophe des Gedichts!“
Pitts blätterte in dem Buch. „‚Rat an eine Jungfrau, etwas aus ihrem Leben zu machen‘?“ fragte er.
Die übrige Klasse prustete vor Lachen. „Das meine ich“, sagte Mr. Keating.
„Ja, Sir“, sagte Pitts und räusperte sich. Dann las er:

„Pflücke die Knospe, solange es geht,
Und die Blüten, wenn sie noch prangen.
Denn bald sind die Rosenblätter verweht.
Wie schnell kommt der Tod gegangen.“


Er hielt inne. Mr. Keating wiederholte: „‚Pflücke die Knospe, solange es geht.‘ Der lateinische Ausdruck für dieses Gefühl lautet Carpe diem. Weiß jemand, was das heißt?“
„Carpe diem“, sagte Meeks, das As in Latein. „Nutze den Tag!“
„Sehr gut, Mr. …?“
„Meeks.“
„Nutze den Tag“, sagte Keating noch einmal. „Warum hat der Dichter diese Verse geschrieben?“
„Weil er es eilig hatte!“ rief ein Schüler. Die anderen wieherten vor Lachen.
„Nein, nein, nein! Sondern weil wir Nahrung für die Würmer sind, Jungs!“ schrie Keating. „Weil wir Frühjahr, Sommer und Herbst nur in begrenzter Anzahl erleben werden. Es ist kaum zu glauben, aber eines Tages wird jeder einzelne von uns aufhören zu atmen, wird erkalten und sterben!“
Er machte eine dramatische Pause. „Stehen Sie auf“, drängte er die Schüler, „und lesen Sie in den Gesichtern dieser Jungen, die die Schule hier vor 60, 70 Jahren besucht haben! Seien Sie nicht schüchtern! Sehen Sie sie sich an!“
Die Jungen standen auf und gingen zu den Klassenfotos, die rings an den Wänden der Ehrenhalle hingen. Sie blickten in die Gesichter junger Männer, die ihnen aus der Vergangenheit entgegensahen.
„Sie sehen kaum anders aus als Sie, nicht war? Aus ihren Augen strahlt Hoffnung, wie bei Ihnen. Sie halten sich für wunderbare Dinge bestimmt, genau wie viele von Ihnen. Nun, wohin sind diese lächelnden Gesichter verschwunden? Was wurde aus ihren Hoffnungen?“
Mit ernsten und nachdenklichen Mienen betrachteten die Jungen die Fotos. Keating ging rasch herum und zeigte von einem Foto zum nächsten.
„Haben die meisten von ihnen nicht gewartet, bis es zu spät war, um in ihrem Leben nur ein Quentchen von dem zu verwirklichen, wessen sie fähig waren? Sie jagten dem allmächtigen Götzen Erfolg nach – haben sie dadurch nicht die Träume ihrer Jugend verraten? Jetzt besehen sich die meisten dieser Gentlemen die Radieschen von unten! Doch wenn ihr sehr nahe herangeht, Jungs, dann hört ihr sie flüstern. Gehen Sie näher heran!“ forderte er sie auf. „Lauschen Sie! Los! Hören Sie es? Ja?“ Die Jungen waren still, und einige neigten das Ohr zu den Fotos. „Carpe diem“, flüsterte Keating. „Nutze den Tag! Macht etwas ungewöhnliches aus eurem Leben!“

Freitag, 3. Juni 2011

Haruki Murakami – Schlaf

Ich setzte mich wieder aufs Sofa und las weiter „Anna Karenina“. Erst bei der jetzigen zweiten Lektüre fiel mir auf, dass ich eigentlich fast nichts vom Inhalt des Buches behalten hatte. An die meisten der auftretenden Personen und an die meisten Szenen erinnerte ich mich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein mir völlig unbekanntes Buch lesen. Seltsam, dachte ich. Ich war beim Lesen sicherlich sehr berührt gewesen, und doch war nichts davon geblieben. Jede Erinnerung an Schauder oder Erregung, die ich damals empfunden haben musste, war fein säuberlich, ohne dass ich es bemerkt hatte, verlöscht.
Was für eine Bedeutung besaßen dann überhaupt jene unzähligen Stunden, die ich damals mit Lesen verbracht hatte?
Ich unterbrach meine Lektüre und sann eine Weile darüber nach. Doch ich fand keine Antwort, und kurz darauf hatte ich auch schon vergessen, worüber ich eigentlich nachdachte. Ich merkte nur plötzlich, dass ich geistesabwesend auf den Baum vorm Fenster blickte. Ich schüttelte den Kopf und las weiter.