Montag, 20. Juni 2011

Herman Melville – Moby Dick

Was nun kam, war ein grauenhaftes, erbarmungswürdiges Schauspiel. Den Kopf über dem Wasser, schwamm der Wal dahin, der Strahl, den er ausblies, kam qualvoll und in jagender Hast, mit seiner einen, armseligen Finne schlug er sich in entsetzlicher Todesangst gegen die Flanke. Bald taumelte er auf diese Seite, bald auf jene; bei jeder Woge, die er durchbrach, sackte er ab und rollte zur Seite, so daß seine Finne kläglich gen Himmel wies. So kreist der Vogel mit gestutzten Schwingen in furchtsamen, unregelmäßigen Kreisen in der Luft und strebt vergebens, dem räuberischen Habicht zu entkommen. Aber der Vogel hat eine Stimme und kann seine Todesangst laut hinausschreien. Die Todesangst dieser großen, stummen Kreatur war eingeschlossen in dem Riesenleib; sie hatte keine Stimme, nur ein dumpfes Röcheln, das durch das Spritzloch kam. Das Bild wurde dadurch noch jammervoller. Und dennoch konnten der mächtige Leib, der schnappende Kiefer und der allgewaltige Schwanz auch dem kühnsten Mann noch Furcht einjagen.

...

Lange konnte der Wal die Hetzjagd nicht durchhalten. Er stöhnte laut auf und ging brausend in die Tiefe. Knirschend liefen die drei Leinen von den Pollern ab und schnitten tiefe Rillen ein. Die Harpuniere fürchteten, daß bei diesem plötzlichen Untertauchen die Leinen gänzlich auslaufen könnten; darum gaben sie, um dem vorzubeugen, noch einige Seilschlingen zu. Der Druck auf die Seile wurde schließlich so stark, daß die Boote mit dem Dollbord am Bug fast im Wasser lagen, während sie am Heck hoch in die Luft ragten. Da der Wal jetzt nicht mehr tiefer tauchte, blieben sie eine Zeitlang in dieser Lage, die durchaus nicht ungefährlich war, denn auf diese Weise war schon manches Boot hinabgerissen worden und verlorengegangen. So lagen die drei Boote auf der leise bewegten See unter dem ewig blauen Mittagshimmel. Kein Stöhnen, kein Schrei, nichts, kein Wellengekräusel, keine Blase kam aus der Tiefe. Welche Landratte hätte gedacht, daß tief unten das gewaltigste Ungeheuer des Meeres sich im Todeskampf wand?
»Achtung, Leute, er rührt sich«, rief Stubb, als sich die Leinen plötzlich regten und die letzten Zuckungen des Wales aus der Tiefe meldeten, so daß jeder Mann am Ruder sie wahrnehmen konnte. Sogleich ließ auch der Druck auf den Bug nach. Die drei Boote schnellten unvermittelt empor wie ein Eisfeld, wenn ein Rudel Eisbären in plötzlichem Schrecken ins Meer flieht.
»Hol ein! Hol ein!« schrie Starbuck wieder. »Er taucht auf!«
Die Leinen, die Sekunden vorher noch keine Handbreit nachgegeben hätten, wurden nun tropfnaß in langen Schlingen schnell ins Boot gezogen, und bald durchbrach auch der Wal zwei Schiffslängen vor den Jägern die Wasseroberfläche. Seine Bewegungen verrieten, daß er am Ende seiner Kräfte war. Die Boote drangen immer näher auf das Tier ein und gerieten in gefährliche Nähe seines Schwanzes. Doch die Lanzen bohrten sich immer häufiger in seinen Riesenleib, und aus jeder neuen Wunde spritzte das Blut in hohen Fontänen empor, während das Blasloch oben am Kopf nur noch mühsam und in Abständen seinen Strahl in die Luft stieß. Doch kam aus diesem letzten Ventil noch kein Blut, denn noch war kein lebenswichtiges Organ im Innern getroffen. Das Leben, wie man bezeichnenderweise sagt, war noch unversehrt.
Die Boote schlossen sich immer enger um ihn zusammen, die ganze obere Hälfte des Körpers, sonst zum größten Teil unter Wasser, lag offen zutage. Die Augen oder vielmehr die Stellen, wo sie gewesen waren, wurden sichtbar. So wie sich an der edlen Eiche in Knorren und Astlöchern allerlei Mißwuchs bildet, so traten dort, wo sich einst die Augen des Wals befunden hatten, zwei blinde Kugeln hervor – ein erbarmungswürdiger Anblick. Aber Erbarmen gab es hier nicht. Der alte, blinde einarmige Wal mußte sterben. Er wurde ermordet, denn sein Öl soll brennen zu den Festen der Menschen und den Feiern der Kirche, wo man die Liebe zu allen Geschöpfen predigt.

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