Als die Jungen hereinkamen, ging Keating in der Halle umher. Er betrachtete die Klassenfotos, die an den Wänden hingen und die zum Teil noch aus dem vorigen Jahrhundert stammten. Außerdem schmückten Trophäen jeder Art die Regale und Glaskästen.
Nach einer Weile hatte Keating das Gefühl, dass alle Platz genommen hatten. Nun wandte er sich ihnen zu. Er sah in seine Namensliste. „Mr. Pitts“, sagte er. „Ein unglücklicher Name. Stehen Sie auf, Mr. Pitts!“ Pitts stand auf. „Schlagen Sie das Textbuch auf Seite 542 auf, Pitts, und lesen Sie die erste Strophe des Gedichts!“
Pitts blätterte in dem Buch. „‚Rat an eine Jungfrau, etwas aus ihrem Leben zu machen‘?“ fragte er.
Die übrige Klasse prustete vor Lachen. „Das meine ich“, sagte Mr. Keating.
„Ja, Sir“, sagte Pitts und räusperte sich. Dann las er:
„Pflücke die Knospe, solange es geht,
Und die Blüten, wenn sie noch prangen.
Denn bald sind die Rosenblätter verweht.
Wie schnell kommt der Tod gegangen.“
Er hielt inne. Mr. Keating wiederholte: „‚Pflücke die Knospe, solange es geht.‘ Der lateinische Ausdruck für dieses Gefühl lautet Carpe diem. Weiß jemand, was das heißt?“
„Carpe diem“, sagte Meeks, das As in Latein. „Nutze den Tag!“
„Sehr gut, Mr. …?“
„Meeks.“
„Nutze den Tag“, sagte Keating noch einmal. „Warum hat der Dichter diese Verse geschrieben?“
„Weil er es eilig hatte!“ rief ein Schüler. Die anderen wieherten vor Lachen.
„Nein, nein, nein! Sondern weil wir Nahrung für die Würmer sind, Jungs!“ schrie Keating. „Weil wir Frühjahr, Sommer und Herbst nur in begrenzter Anzahl erleben werden. Es ist kaum zu glauben, aber eines Tages wird jeder einzelne von uns aufhören zu atmen, wird erkalten und sterben!“
Er machte eine dramatische Pause. „Stehen Sie auf“, drängte er die Schüler, „und lesen Sie in den Gesichtern dieser Jungen, die die Schule hier vor 60, 70 Jahren besucht haben! Seien Sie nicht schüchtern! Sehen Sie sie sich an!“
Die Jungen standen auf und gingen zu den Klassenfotos, die rings an den Wänden der Ehrenhalle hingen. Sie blickten in die Gesichter junger Männer, die ihnen aus der Vergangenheit entgegensahen.
„Sie sehen kaum anders aus als Sie, nicht war? Aus ihren Augen strahlt Hoffnung, wie bei Ihnen. Sie halten sich für wunderbare Dinge bestimmt, genau wie viele von Ihnen. Nun, wohin sind diese lächelnden Gesichter verschwunden? Was wurde aus ihren Hoffnungen?“
Mit ernsten und nachdenklichen Mienen betrachteten die Jungen die Fotos. Keating ging rasch herum und zeigte von einem Foto zum nächsten.
„Haben die meisten von ihnen nicht gewartet, bis es zu spät war, um in ihrem Leben nur ein Quentchen von dem zu verwirklichen, wessen sie fähig waren? Sie jagten dem allmächtigen Götzen Erfolg nach – haben sie dadurch nicht die Träume ihrer Jugend verraten? Jetzt besehen sich die meisten dieser Gentlemen die Radieschen von unten! Doch wenn ihr sehr nahe herangeht, Jungs, dann hört ihr sie flüstern. Gehen Sie näher heran!“ forderte er sie auf. „Lauschen Sie! Los! Hören Sie es? Ja?“ Die Jungen waren still, und einige neigten das Ohr zu den Fotos. „Carpe diem“, flüsterte Keating. „Nutze den Tag! Macht etwas ungewöhnliches aus eurem Leben!“
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