Sonntag, 27. Februar 2011

Colin Higgins – Harold und Maude

Harold Chasen stieg auf den Stuhl und legte sich die Schlinge um den Hals. Er zog sie zu und prüfte den Knoten. Er würde halten. Er sah sich im Zimmer um. Leise spielte die Musik von Chopin. Der Briefumschlag war auf dem Schreibtisch platziert. Alles war bereit. Er wartete. Draußen fuhr ein Wagen in die Einfahrt und hielt. Harold hörte, wie seine Mutter ausstieg. Mit der Andeutung eines Lächelns stieß er den Stuhl um und fiel mit einem Ruck ins Leere. Wenige Augenblicke später hatten seine Füße aufgehört zu zucken, und sein Körper pendelte schlaff am Seil.
Mrs. Chasen legte ihre Schlüssel auf den Tisch am Eingang und rief dem Hausmädchen zu, es solle die Pakete aus dem Wagen holen. Der Lunch war entsetzlich langweilig gewesen, und sie war müde. Sie blickte in den Spiegel und zupfte geistesabwesend an ihrem Haar. Zum Dinner heute Abend würde sie die  Perücke mit den hellen Strähnen tragen. Sie würde ihren Termin bei René absagen und den Rest des Nachmittags auf ein Nickerchen verwenden. Ab und zu musste sie schließlich auch ein wenig sich selbst verwöhnen. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Während sie in ihrem Adressbuch nach der Nummer des Friseurs blätterte, vernahm sie die leise spielende Chopin-Musik. Wie angenehm beruhigend, dachte sie und begann zu wählen. René würde empört sein, aber das war nun mal nicht zu ändern. Während das Freizeichen ertönte, lehnte sie sich zurück und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Stuhls. Ihr Blick fiel auf den Briefumschlag. Sie blickte nach oben und sah den Körper ihres Sohnes an einem Seil von der Decke baumeln. Sie hielt inne. Der Körper schwang leicht hin und her, sodass das um den Eichenbalken geschlungene Seil zum Rythmus der Musik knarrende Geräusche machte. Mrs. Chasen starrte auf die hervorquellenden Augen, die heraushängende Zunge, auf die Schlinge, die fest um den grotesk verdrehten Hals lag.
„Die gewählte Nummer ist ungültig“, erklang eine dünne Stimme. „Bitte überprüfen Sie die Nummer und wählen Sie noch einmal, dies ist ...“ Mrs. Chasen unterbrach die Verbindung. „Also wirklich, Harold“, sagte sie, während sie erneut wählte. „Ich nehme an, du hälst das für wahnsinnig witzig. Es scheint dir völlig egal zu sein, dass die Crawfords heute zum Dinner kommen.“

1 Kommentar:

  1. Ja, Frechheit sich zu erhängen, wenn die Crawfords heut Abend zum essen kommen.

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