Samstag, 20. August 2011

Cornelia Funke – Reckless, Steinernes Fleisch

»Wo ist Will?«, fragte Jacob.
Clara wies auf den Turm neben dem Tor. »Er ist schon mehr als eine Stunde dort oben. Er hat kein Wort gesprochen, seit er sie gesehen hat.«
Sie wussten beide, von wem sie sprach.
Die Rosen wucherten nirgendwo dichter als an den runden Mauern des Turmes. Ihre Blüten waren so dunkelrot, dass die Nacht sie fast schwarz färbte, und ihr Duft hing so süß und schwer in der kalten Luft, als spürten sie den Herbst nicht.
Jacob ahnte schon, was er unter dem Turmdach finden Würde, bevor er die enge Wendeltreppe hinaufstieg. Die Ranken krallten sich in seine Kleider, und er musste die Stiefel immer wieder aus den dornigen Schlingen befreien, doch schließlich stand er vor dem Raum, in dem vor fast zweihundert Iahren eine Fee ihr Geburtstagsgeschenk überbracht hatte.
Das Spinnrad stand neben einem schmalen Bett, das nie für eine Prinzessin gedacht gewesen war. Der Körper, der immer noch darauf schlief, war bedeckt mit Rosenblättern. Der Fluch der Fee hatte ihn in all den Jahren nicht altern lassen, aber die Haut war wie Pergament und fast so vergilbt wie das Kleid, das die Prinzessin seit zwei Jahrhunderten trug. Die Perlen, mit denen es bestickt war, schimmerten immer noch weiß, aber die Spitze, die es säumte, war inzwischen ebenso braun wie die Blütenblätter, die die Seide bedeckten.
Will stand an dem einzigen Fenster, als wäre der Prinz doch noch gekommen. Jacobs Schritte ließen ihn herumfahren. Der Stein färbte ihm nun auch die Stirn, und das Blau seiner Augen trank im Gold. Die Plünderer hatten ihnen das wertvollste gestohlen, was sie hatten. Zeit.
»Kein ›und wenn sie nicht gestorben sind‹«, sagte Will mit einem Blick auf die Prinzessin. »Und das hier war auch ein Feenfluch.« Er lehnte sich gegen die Mauer. »Geht es dir besser?«
»Ja«, log Jacob. »Was ist mit dir?«
Will antwortete nicht sofort. Und als er es schließlich tat, klang seine Stimme so glatt und kühl wie seine neue Haut.
»Mein Gesicht fühlt sich an wie polierter Stein. Die Nacht wird mit jedem Tag heller, und ich konnte dich hören, lange bevor du auf der Treppe warst. Ich spüre es inzwischen nicht nur auf der Haut.« Er hielt inne und rieb sich die Schläfen. »Es ist auch in mir.«
Will trat auf das Bett zu und starrte auf den mumifizierten Körper.
»Ich hatte alles vergessen. Dich. Clara. Mich selbst. Ich wollte nur noch zu ihnen reiten.«
Jacob suchte nach Worten, aber er fand nicht eines.
»Ist es das, was passiert? Sag mir die Wahrheit.« Will blickte ihn an. »Ich werde nicht nur aussehen wie sie. Ich werde sein wie sie, oder?«
Jacob hatte die Lügen auf der Zunge, all das ›Unsinn, Will, alles wird gut‹, aber er brachte sie nicht mehr über die Lippen.
Der Blick seines Bruders ließ es nicht zu.
»Willst du wissen, wie sie sind?« Will pflückte der Prinzessin ein Rosenblatt aus dem strohigen Haar. »Sie sind zornig. Ihr Zorn bricht in dir aus wie eine Flamme. Aber sie sind auch der Stein.
Sie spüren ihn in der Erde und hören ihn unter sich atmen.«
Er betrachtete die schwarzen Nägel an seiner Hand.
»Sie sind Dunkelheit«, sagte er leise. »Und Hitze. Und der rote Mond ist ihre Sonne.«
Jacob schauderte, als er den Stein in seiner Stimme hörte.
Sag etwas, ]acob. Irgendetwas. Es war so still in der dunklen Kammer.
»Du wirst nicht werden wie sie«, sagte er. »Weil ich es Verhindern Werde.«
»Wie?« Da war er wieder, dieser Blick, der plötzlich älter war als er. »Ist es wahr, was du den Plünderern erzählt hast? Du bringst mich zu einer anderen Fee?«
»Ja.«
»Ist sie so gefährlich wie die, die das hier getan hat?« Will berührte das pergamentene Gesicht der Prinzessin. »Sieh aus dem Fenster. In den Dornen hängen Tote. Glaubst du, ich will, dass du meinetwegen so endest?«
Aber Wills Blick strafte seine Worte Lügen. Hilf mir Jacob, sagte er. Hilf mir.
Jacob zog ihn von der Toten fort.
»Die Fee, zu der ich dich bringe, ist anders«, sagte er. Ist sie das, Jacob?, flüsterte es in ihm, aber er beachtete es nicht. Er legte alle Hoffnung, die er hatte, in seine Stimme. Und all die Zuversicht, die sein Bruder hören wollte: »Sie wird uns helfen, Will! Ich verspreche es dir.«
Es funktionierte immer noch. Die Hoffnung säte sich auf Wills Gesicht ebenso leicht aus wie der Zorn. Brüder. Der ältere und der jüngere. Unverändert.













  

Sonntag, 14. August 2011

Mathias Praxenthaler – Horst der Held

Tauftrauma

Eltern haben viele Möglichkeiten, ihre Söhne zu quälen. Besonders gemein ist es allerdings, ihnen den Namen Horst zu geben. Und warum gerade seine Eltern so grausam waren, hat Horst sein Leben lang nicht verstanden. Immerhin wurde er 1970 geboren und nicht etwa kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals, in den fünfziger Jahren, wäre Horst ein ganz normaler Name gewesen für ein ganz normales Ehepaar, das einen ganz normalen Sohn in die Welt setzt. Aber 1970 war 1970. Und zu dieser Zeit musste selbst einem mittleren Beamten und seiner Haus-Ehe-Frau klar gewesen sein, dass kein Kind mit Vornamen Horst heißen möchte. Einfach grundsätzlich nicht. Und schon gar nicht, wenn der Familienname Gurk ist. Doch seine Eltern beschlossen, Horst passe perfekt zu ihrem ersten und leider einzigen Spross, und so konnte bereits kurz nach der Geburt zur Taufe geschritten werden.
Es war ein wolkenverhangener Apriltag, ungemütlich und außergewöhnlich kalt. Die Festgesellschaft hatte sich vor der zuständigen und katholischen Kirche verabredet, und alle waren gekommen. Vater, Mutter und natürlich die Großeltern, sofern sie den Krieg überlebt hatten, dazu ein Taufpate sowie eine Hand voll Freunde der Familie. Gemeinsam schritt man in das Gotteshaus ein, und besonders Vater Gurk glänzte die Vorfreude in den Augen, als er seinen Sohn stolz vor sich hertrug. Der noch Namenlose dagegen war in keiner guten Stimmung. Denn als ob er geahnt hätte, welche Bürde er nach seiner Taufe zu tragen hat, krähte und schrie er, zappelte, spuckte mehrmals seinen Schnuller auf den Boden und presste in seiner Verzweiflung eine mächtige Ladung in seine Windel. Das alles hatte freilich nur kurzfristig aufschiebende Wirkung. Sobald die Möllny wieder saß und der kleine Schreihals über dem Taufbecken fixiert war, wurder kurzer Prozess gemacht. Der Pfarrer begann aus einem goldenen Kelch auf das Baby einzuschütten, und so hieß Horst ab seinem zweiten Lebensjahr eben Horst.
Und als wäre der Name Horst nicht schon Schmach genug gewesen, taten seine Eltern in seiner Jugend alles, um sein Leiden über die Jahre zu retten. Sie tauften ihn nämlich nicht nur Horst, sondern riefen ihn auch bei jeder Gelegenheit auch so, zogen ihn wie einen Horst an und verpassten ihm zu allem Überfluss noch eine horstige Frisur, aus der rechts und links zwei ziemliche fleischige Segelohren leuchtend hervorguckten. Im zarten Alter von fünf Jahren kam dann eine solide Kassenbrille hinzu, die seine eklatante Sehschwäche lindern sollte, und selbst der Kieferorthopäde kannte das Wort Gnade nicht und versuchte jahrelang, seinen fatalen Überbiss mit einer festsitzenden Zahnspange zu bekämpfen, die mit einem massiven Drahtgestell über dem Kopf befestigt war. Die entscheidenen Jahre seiner Kindheit und der danach einsetzenden Pubertät hatte Horst also mit zwei schwierigen Problemen zu kämpfen: Er hatte einen beschissenen Namen, und er sah genau so aus.

Dienstag, 9. August 2011

Nick Hornby – About a Boy

Marcus konnte es nicht fassen. Eine tote Ente. Na schön, er hatte versucht, sie mit einem Stück Sandwich am Kopf zu treffen, aber versucht hatte er schon alles Mögliche, und nichts davon hatte je geklappt. Er hatte versucht, den höchsten Punktestand im Stargazer-Spiel im Kebabladen auf der Hornsey Road zu erreichen – nichts. Er hatte eine Woche lang in jeder Mathestunde versucht, Nickys Gedanken zu lesen, indem er auf seinen Hinterkopf starrte – nichts. Es wurmte ihn wirklich, dass bei seinem einzigen geglückten Versuch etwas herausgekommen war, was er nun wirklich nicht allzu dringend gewollt hatte. Und überhaupt, seit wann starben Vögel daran, dass sie von einem Sandwich getroffen wurden? Kinder verbrachten bestimmt ihr halbes Leben damit, Dinge nach den Enten im Regent's Park zu schmeißen. Wieso war gerade er an eine so schlappe Ente geraten? Ihr musste irgendwas gefehlt haben. Wahrscheinlich war sie sowieso kurz vor dem Herzinfarkt oder so was gewesen; es war nur ein Zufall. Aber selbst wenn es so war, würde ihm niemand glauben. Falls es Zeugen gab, würden sie nur gesehen haben, wie das Brot die Ente direkt am Hinterkopf traf und sie daraufhin umkippte. Sie würden zwei und zwei zusammenzählen und dabei fünf rausbekommen, und er würde für ein Verbrechen ins Gefängnis wandern, das er nie begangen hatte.
Will, Suzie, Megan und Marcus standen auf dem Pfad am Rand des Weihers und starrten auf den im Wasser treibenden Kadaver.
»Lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern«, sagte Will, der trendy Typ, der hinter Suzie her war. »Lass sie einfach. Wo ist denn das Problem?«
»Na ja ... angenommen, mich hat einer gesehen?«
»Glaubst du das?«
»Ich weiß nicht. Kann sein. Kann sein, dass sie gesagt haben, sie würden es dem Parkwächter sagen.«
»Kann es sein, dass dich jemand gesehen hat, oder war es so? Kann es sein, dass jemand gesagt hat, er würde es dem Parkwächter sagen, oder war es so?« Marcus konnte den Kerl nicht leiden, also antwortete er ihm nicht.
»Was schwimmt da neben ihr?«, fragte Will. »Ist das das Brot, das du nach ihr geworfen hast?«
Marcus nickte unglücklich.
»Das ist kein Sandwich, das ist ein verdammtes Baguette. Kein Wunder, dass sie umgekippt ist. Damit hättest du sogar mich töten können.«

Sonntag, 7. August 2011

Max Frisch – Mein Name sei Gantenbein

Die dabei gewesen sind, die letzten, die ihn noch gesprochen haben, Bekannte durch Zufall, sagen, dass er an dem Abend nicht anders war als sonst, munter, nicht übermütig. Man speiste reizvoll, aber nicht üppig; geredet wurde viel; Palaver mit Niveau, wobei er wenigstens zu Anfang, scheint es, nicht stiller war als die anderen. Jemand will sich gewundert haben über seinen müden Blick, wenn er zuhörte; dann wieder beteiligte er sich, um vorhanden zu sein, witzig, also nicht anders als man ihn kannte. Später ging die ganze Gruppe noch in eine Bar, wo man vorerst in Mänteln stand, später sich zu andern setzte, die ihn nicht kannten; vielleicht wurde er deswegen still. Er bestellte nur noch Kaffee. Als er später aus der Toilette zurückkam, sagen sie, war er bleich, aber eigentlich bemerkte man es erst, als er, ohne sich nochmals zu setzten, um Entschuldigung bat, er möchte nachhaus, fühle sich plötzlich nicht besonders. Er machte es kurz, ohne Handschlag, leichthin, um ihr Gespräch nicht zu unterbrechen. Jemand sagte noch: So warte doch, wir werden hier auch nicht alt! Er war aber, sagen sie, nicht zu halten, und als die Garderobiere endlich seinen Mantel brachte, zog er diesen nicht an, sondern nahm ihn nur auf den Arm, als habe er Eile. Alle sagen, er habe nicht viel getrunken, und sie waren nicht sicher, ob er sich wirklich unwohl fühlte, ob das nicht ein Vorwand war; er lächelte. Vielleicht hatte er noch eine andere Verabredung. Die Damen foppten ihn schmeichelhaft; er schien auf die Verdächtigung einzugehen, aber ohne noch ein Wort zu sagen. Man musste ihn gehen lassen. Es war noch nicht einmal Mitternacht. Als man dann seine vergessene Pfeife auf dem Tisch bemerkte, war es zu spät, um ihm nachzulaufen... Der Tod muss eingetreten sein, kurz nachdem er sich in seinen Wagen gesetzt hatte; das Standlicht  war eingeschaltet, ebenso der Motor, der Winker blinkte und blinkte, als wollte er jeden Augenblick in die Straße ausfahren. Er saß aufrecht, Kopf nach hinten, beide Hände am aufgerissenen Kragen, als ein Polizist kam, um nachzusehen warum der Wagen mit dem laufenden Motor nicht ausfuhr. Es muss ein kurzer Tod gewesen, und die nicht dabei gewesen sind, sagen, ein leichter Tod – ich kann es mir nicht vorstellen – ein Tod wie gewünscht...
Ich stelle mir vor:
So könnte das Ende von Enderlin sein.
Oder von Gantenbein?
Eher von Enderlin.
Ja, sage ich auch, ich habe ihn gekannt. Was heißt das! Ich habe ihn mir vorgestellt, und jetzt wirft er mir meine Vorstellungen zurück wie Plunder; er braucht keine Geschichte mehr wie Kleider.

Freitag, 5. August 2011

Bibi Dumon Tak – Kuckuck, Krake, Kakerlake

Der Löcherkrake.


Das Weibchen schwebt wie eine zwei Meter große, rosafarbene Decke durch den Ozean. Und das Männchen, ach, das Männchen. Das ist nicht größer als ihr Auge. Ein mickrig kleiner Tintenfisch von zwei Zentimetern Länge. Aber was für einen Mumm der hat!
Sein ganzes Leben ist eine einzige Schnitzeljagd. Die Schnitzeljagd nach einer Frau. Wenn er sie endlich gefunden hat, stirbt er. Aber bevor er stirbt, muss er noch eine Heldentat vollbringen. Er muss dafür sorgen, dass es Nachwuchs gibt: kleine Löcherkrakenkinder.
Das kleine Männchen wirft alle seine Samen in einen seiner acht Arme und schwimmt an dem riesenhaften Weibchen entlang. Dann trennt es den Arm, in dem sich die Samen befinden, ab und legt ihn auf einem der Riesenarme des Weibchens ab. Dieser Arm ist natürlich sein Pimmel. Und während dieser nach oben kriecht, stirbt das Männchen.
Sein Pimmel setzt sich zu einigen anderen Pimmeln in ein Loch. Daher stammt der Name „Löcherkrake“. Das Weibchen hat nämlich eine Art Pimmelwartezimmer in ihrem Körper. Zu der Zeit, in der sie Kinder bekommen möchte, drückt sie alle Pimmel aus, sodass die Samen zu ihren Eiern gelangen.
Einmal starb ein Löcherkrakenweibchen in einem großen Meeresaquarium. Als die Wärter es herausfischten, sahen sie die ganzen Pimmel, die auf ihrem Körper herumkrochen. Das Weibchen war tot, aber die Pimmel lebten noch lange glücklich und zufrieden.

Mittwoch, 3. August 2011

Howard Fast – Sacco und Vanzetti

Sechs Uhr früh ist Tagesanfang. Wenn dann der Tag beginnt, sind es achtzehn Stunden bis zu der Mitternacht genannten Zeit, die nach Meinung so vieler Tagesende ist.
Um sechs Uhr früh schmecken und fühlen sie den Tag, die Tiere und alles, was den Tieren nahe ist. Die Fische wälzen sich auf den Rücken und zeigen ihre Bäuche und sehen nach dem grauen Wolkenlicht, das auf das Wasser tröpfelt. Die Vögel fliegen so hoch, dass sie den Rand der Sonne sehen. Auf dem Boden mischt sich Staub dem Morgennebel, und aus diesem Nebel erhebt sich gleich einer mittelalterlichen Burg ein Gefängnis von achteckigem Grundriss.
Die Wärter, die auf den Gefängnismauern Posten stehen, wenden ihre düsteren, gedankenleeren Augen dem Tageslicht zu. Bald werden die Hähne krähen, dann wird die Sonne der Erde wieder scheinen. Der Gefängniswärter ist ein Mensch wie andere Menschen. Er denkt Gedanken, träumt Träume, aber er ist sich auch bewusst, dass ihn eine ganze Geschichte der Zivilisation, ein hallendes, nachhallendes Sausen der Peitsche von gewöhnlichen Menschen wie du und ich trennt. Er ist auch deshalb anders, weil ihm die schönsten menschlichen Hoffnungen und schlimmsten menschlichen Befürchtungen anvertraut sind, die er mit seinem Gewehr und seinem Knüppel hüten muss.
Zu eben dieser Morgenstunde erwachte im Todeshaus dieses Gefängnisses ein Dieb. Das fast lautlose Wispern und Stöhnen und Knarren einer von der ersten Ahnung des Tageslichts erwärmten Erde weckte ihn; er reckte sich auf seiner Pritsche, gähnte und fühlte Furcht seine Knochen, seinen Blutstrom durchsickern in demselben Augenblick, da ihm Erwachen und Bewusstsein kamen.
Dieser Mann heißt Celestino Madeiros. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt, kaum mehr als ein Knabe, und nicht unhübsch. Die vielen entsetzlichen Jahre des Hasses, der Gewalttätigkeit und Leidenschaft haben ihn weniger gezeichnet, als sie es hätten können. Er hat eine grade Nase, einen breiten Mund mit vollen Lippen und gerade Brauen. Die dunklen Augen sind schwer von Furcht und Sehnsucht.
Dieser Mann ist Madeiros, der Dieb. Aus dem Schlaf tritt er ins Bewusstsein, und da wird ihm die Erkenntnis, dass dies der letzte Tag seines Lebens auf dieser Erde ist.
Der Gedanke macht ihn Schaudern, kalte Fröste durchjagen seinen Leib. Obgleich es Sommer ist und warm, zieht er die Decke über sich im Bemühen, die Frostschauer zu bannen und in seinem Herzen ein wenig Feuer zu entzünden. Es hat keinen Zweck; die Schauer kriechen wieder und wieder über ihn hin. So wacht er auf, voll von der Kälte und der Furcht.

Montag, 1. August 2011

Martin Millar – Die Elfen von New York

Dinnie, ein übergewichtiger Menschenfeind, war der schlechteste Geiger von New York. Trotzdem übte er gerade tapfer, als zwei hübsche kleine Feen durch sein Fenster im vierten Stock flatterten und auf seinen Teppich kotzten.
„Entschuldigung“, sagte die eine.
„Ach was“, sagte die andere. „Für Menschen riecht Feenkotze bestimmt köstlich.“
Zu dem Zeitpunkt war Dinnie aber schon halb die Treppe hinunter und wurde immer noch schneller.
„Zwei Feen sind durch mein Fenster reingeflogen und haben auf meinen Teppich gekotzt!“ schrie er, als er unten auf der 4. Straße angekommen war. Er merkte gar nicht, welche Wirkung seine Worte auf die Passanten hatten, bis ein paar Häuser weiter die Müllmänner ihre Tonnen abstellten und ihn auslachten.
„Was is los?“
„Da oben“, schnaufte Dinnie. „Zwei Feen – mit Schottenröckchen und Fiedeln und kleinen Schwertern... grünen Schottenröckchen.“
Die Männer starrten ihn an. Dinnies Monolog stockte.
„Heh“, rief der Vorarbeiter. „Kümmert euch nicht um den Verrückten. Macht weiter mit eurer Arbeit. Los. Vorwärts. Beeilung!“
„Wirklich, es stimmt“, protestierte Dinnie, aber sein Publikum hatte sich verzogen. Niedergeschlagen sah Dinnie den Männern nach.
Die haben mir nicht geglaubt, dachte er. Kein Wunder. Ich glaub’s mir ja selbst nicht.
An der Ecke kickten vier Puertoricaner einen Tennisball hin und her und sahen Dinnie mitleidig an. Mein Gott, jetzt habe ich mich vor allen lächerlich gemacht, dachte er zerknirscht und schlich zurück ins alte Kino im Erdgeschoss seines Hauses. Sein Zimmer war vier Stockwerke hoch unter dem Dach, aber Dinnie wusste nicht recht, ob er so viele Stufen hochsteigen wollte.
„Meine Privatsphäre ist mir heilig“, knurrte er. „Und mein Verstand ebenfalls.“
Er beschloss, sich im Laden gegenüber ein Bier zu holen.
„Aber wenn ich in mein Zimmer komme und da sind zwei Feen, dann gibt’s Ärger.“

Fünf weitere Feen, die nach Bier, Whiskey und Fliegenpilzen abgrundtief desorientiert waren, flohen in diesem Moment in trunkenem Entsetzen vor dem Chaos der Park Avenue in den vergleichsweise sicheren Central Park.
„In welchem Teil von Cornwall sind wir?“ jammerte Padraig und entkam mit knapper Not den Wagenrädern eines Erdnussverkäufers.
„Das weiß nur die Göttin“, antwortete Brannoc und versuchte, Tulip zu befreien, der sich in den baumelnden Zügeln einer Pferdekutsche mit Touristen verfangen hatte.
„Ich glaube, ich halluziniere immer noch“, wimmerte Padraig, denn eine Flutwelle von Joggern wälzte sich auf ihn zu. Maeve zog ihn und die anderen schnell ins rettende Gebüsch.
Erschöpft sanken sie zu Boden.
„Sind wir in Sicherheit?“
Noch immer toste der Stadtlärm um sie herum, aber kein Mensch war zu sehen. Ein Glück. Für die meisten Menschen waren Feen nämlich unsichtbar, und so viele rennende Füße bedeuteten eine schreckliche Gefahr.
„Ja, ich glaube, hier sind wir sicher“, antwortete Brannoc, der älteste von ihnen und gewissermaßen ihr Anführer. „Aber ich habe langsam den Verdacht, dass wir gar nicht mehr in Cornwall sind.“
Ein Eichhörnchen gesellte sich zu ihnen.
„Guten Tag“, sagte Brannoc höflich, trotz seines schrecklichen Katers.
„Wer zum Teufel seid ihr denn?“ wollte das Eichhörnchen wissen.
„Wir sind Elfen“, antwortete Brannoc, woraufhin das Eichhörnchen sich lachend ins Gras plumpsen ließ, denn New Yorker Eichhörnchen sind zynische Kreaturen und glauben nicht an Feen.

In der 4. Straße stapfte Dinnie derweil die Treppen hoch, nahm noch einen großen Schluck von seinem mexikanischen Bier, kratzte sein dickes Kinn und betrat zuversichtlich sein Zimmer; er war überzeugt, dass er alles nur geträumt hatte.
Zwei Feen schliefen friedlich auf seinem Bett, und Dinnie fiel auf der Stelle in eine tiefe Depression. Er wusste, dass er nicht genug Geld hatte für einen Therapeuten.