Mittwoch, 3. August 2011

Howard Fast – Sacco und Vanzetti

Sechs Uhr früh ist Tagesanfang. Wenn dann der Tag beginnt, sind es achtzehn Stunden bis zu der Mitternacht genannten Zeit, die nach Meinung so vieler Tagesende ist.
Um sechs Uhr früh schmecken und fühlen sie den Tag, die Tiere und alles, was den Tieren nahe ist. Die Fische wälzen sich auf den Rücken und zeigen ihre Bäuche und sehen nach dem grauen Wolkenlicht, das auf das Wasser tröpfelt. Die Vögel fliegen so hoch, dass sie den Rand der Sonne sehen. Auf dem Boden mischt sich Staub dem Morgennebel, und aus diesem Nebel erhebt sich gleich einer mittelalterlichen Burg ein Gefängnis von achteckigem Grundriss.
Die Wärter, die auf den Gefängnismauern Posten stehen, wenden ihre düsteren, gedankenleeren Augen dem Tageslicht zu. Bald werden die Hähne krähen, dann wird die Sonne der Erde wieder scheinen. Der Gefängniswärter ist ein Mensch wie andere Menschen. Er denkt Gedanken, träumt Träume, aber er ist sich auch bewusst, dass ihn eine ganze Geschichte der Zivilisation, ein hallendes, nachhallendes Sausen der Peitsche von gewöhnlichen Menschen wie du und ich trennt. Er ist auch deshalb anders, weil ihm die schönsten menschlichen Hoffnungen und schlimmsten menschlichen Befürchtungen anvertraut sind, die er mit seinem Gewehr und seinem Knüppel hüten muss.
Zu eben dieser Morgenstunde erwachte im Todeshaus dieses Gefängnisses ein Dieb. Das fast lautlose Wispern und Stöhnen und Knarren einer von der ersten Ahnung des Tageslichts erwärmten Erde weckte ihn; er reckte sich auf seiner Pritsche, gähnte und fühlte Furcht seine Knochen, seinen Blutstrom durchsickern in demselben Augenblick, da ihm Erwachen und Bewusstsein kamen.
Dieser Mann heißt Celestino Madeiros. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt, kaum mehr als ein Knabe, und nicht unhübsch. Die vielen entsetzlichen Jahre des Hasses, der Gewalttätigkeit und Leidenschaft haben ihn weniger gezeichnet, als sie es hätten können. Er hat eine grade Nase, einen breiten Mund mit vollen Lippen und gerade Brauen. Die dunklen Augen sind schwer von Furcht und Sehnsucht.
Dieser Mann ist Madeiros, der Dieb. Aus dem Schlaf tritt er ins Bewusstsein, und da wird ihm die Erkenntnis, dass dies der letzte Tag seines Lebens auf dieser Erde ist.
Der Gedanke macht ihn Schaudern, kalte Fröste durchjagen seinen Leib. Obgleich es Sommer ist und warm, zieht er die Decke über sich im Bemühen, die Frostschauer zu bannen und in seinem Herzen ein wenig Feuer zu entzünden. Es hat keinen Zweck; die Schauer kriechen wieder und wieder über ihn hin. So wacht er auf, voll von der Kälte und der Furcht.

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