»Wo ist Will?«, fragte Jacob.
Clara wies auf den Turm neben dem Tor. »Er ist schon mehr als eine Stunde dort oben. Er hat kein Wort gesprochen, seit er sie gesehen hat.«
Sie wussten beide, von wem sie sprach.
Die Rosen wucherten nirgendwo dichter als an den runden Mauern des Turmes. Ihre Blüten waren so dunkelrot, dass die Nacht sie fast schwarz färbte, und ihr Duft hing so süß und schwer in der kalten Luft, als spürten sie den Herbst nicht.
Jacob ahnte schon, was er unter dem Turmdach finden Würde, bevor er die enge Wendeltreppe hinaufstieg. Die Ranken krallten sich in seine Kleider, und er musste die Stiefel immer wieder aus den dornigen Schlingen befreien, doch schließlich stand er vor dem Raum, in dem vor fast zweihundert Iahren eine Fee ihr Geburtstagsgeschenk überbracht hatte.
Das Spinnrad stand neben einem schmalen Bett, das nie für eine Prinzessin gedacht gewesen war. Der Körper, der immer noch darauf schlief, war bedeckt mit Rosenblättern. Der Fluch der Fee hatte ihn in all den Jahren nicht altern lassen, aber die Haut war wie Pergament und fast so vergilbt wie das Kleid, das die Prinzessin seit zwei Jahrhunderten trug. Die Perlen, mit denen es bestickt war, schimmerten immer noch weiß, aber die Spitze, die es säumte, war inzwischen ebenso braun wie die Blütenblätter, die die Seide bedeckten.
Will stand an dem einzigen Fenster, als wäre der Prinz doch noch gekommen. Jacobs Schritte ließen ihn herumfahren. Der Stein färbte ihm nun auch die Stirn, und das Blau seiner Augen trank im Gold. Die Plünderer hatten ihnen das wertvollste gestohlen, was sie hatten. Zeit.
»Kein ›und wenn sie nicht gestorben sind‹«, sagte Will mit einem Blick auf die Prinzessin. »Und das hier war auch ein Feenfluch.« Er lehnte sich gegen die Mauer. »Geht es dir besser?«
»Ja«, log Jacob. »Was ist mit dir?«
Will antwortete nicht sofort. Und als er es schließlich tat, klang seine Stimme so glatt und kühl wie seine neue Haut.
»Mein Gesicht fühlt sich an wie polierter Stein. Die Nacht wird mit jedem Tag heller, und ich konnte dich hören, lange bevor du auf der Treppe warst. Ich spüre es inzwischen nicht nur auf der Haut.« Er hielt inne und rieb sich die Schläfen. »Es ist auch in mir.«
Will trat auf das Bett zu und starrte auf den mumifizierten Körper.
»Ich hatte alles vergessen. Dich. Clara. Mich selbst. Ich wollte nur noch zu ihnen reiten.«
Jacob suchte nach Worten, aber er fand nicht eines.
»Ist es das, was passiert? Sag mir die Wahrheit.« Will blickte ihn an. »Ich werde nicht nur aussehen wie sie. Ich werde sein wie sie, oder?«
Jacob hatte die Lügen auf der Zunge, all das ›Unsinn, Will, alles wird gut‹, aber er brachte sie nicht mehr über die Lippen.
Der Blick seines Bruders ließ es nicht zu.
»Willst du wissen, wie sie sind?« Will pflückte der Prinzessin ein Rosenblatt aus dem strohigen Haar. »Sie sind zornig. Ihr Zorn bricht in dir aus wie eine Flamme. Aber sie sind auch der Stein.
Sie spüren ihn in der Erde und hören ihn unter sich atmen.«
Er betrachtete die schwarzen Nägel an seiner Hand.
»Sie sind Dunkelheit«, sagte er leise. »Und Hitze. Und der rote Mond ist ihre Sonne.«
Jacob schauderte, als er den Stein in seiner Stimme hörte.
Sag etwas, ]acob. Irgendetwas. Es war so still in der dunklen Kammer.
»Du wirst nicht werden wie sie«, sagte er. »Weil ich es Verhindern Werde.«
»Wie?« Da war er wieder, dieser Blick, der plötzlich älter war als er. »Ist es wahr, was du den Plünderern erzählt hast? Du bringst mich zu einer anderen Fee?«
»Ja.«
»Ist sie so gefährlich wie die, die das hier getan hat?« Will berührte das pergamentene Gesicht der Prinzessin. »Sieh aus dem Fenster. In den Dornen hängen Tote. Glaubst du, ich will, dass du meinetwegen so endest?«
Aber Wills Blick strafte seine Worte Lügen. Hilf mir Jacob, sagte er. Hilf mir.
Jacob zog ihn von der Toten fort.
»Die Fee, zu der ich dich bringe, ist anders«, sagte er. Ist sie das, Jacob?, flüsterte es in ihm, aber er beachtete es nicht. Er legte alle Hoffnung, die er hatte, in seine Stimme. Und all die Zuversicht, die sein Bruder hören wollte: »Sie wird uns helfen, Will! Ich verspreche es dir.«
Es funktionierte immer noch. Die Hoffnung säte sich auf Wills Gesicht ebenso leicht aus wie der Zorn. Brüder. Der ältere und der jüngere. Unverändert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen